Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel
Autoren: Leon Morell
Vom Netzwerk:
Steife aus den Gliedern vertrieben. Die Söldner zogen weiter, wie sie gekommen waren: unaufgeregt, gleichgültig. Für sie unterschied sich dieser Tag durch nichts von tausend anderen. Nach und nach entfernte sich das Geklirr ihrer Rüstungen Richtung Süden. Gegen Mittag wurde es still. Die ersten Schwalben, die vor zwei Tagen begonnen hatten, ihre Nester zu bauen, flatterten aufgeregt im Giebel umher.
    Aurelio hatte sich aufgesetzt. Irgendwann in der Nacht war unbemerkt sein Tränenfluss versiegt. Ein einziges Mal nur hatte er seine Mutter berührt – um ihre erloschenen Augen zu schließen. Ihre Haut schimmerte wie Marmor. Nichts in ihrem Gesicht deutete auf die Qualen ihres letzten Tages hin. Trotula wurde unruhig. Sie verlangte nach Futter. Aurelio hätte nicht sagen können, was schwerer wog: der Schmerz oder die Scham. Ein Gewicht, das ihn niederdrückte wie ein bleiernes Joch. Er hatte es nicht verhindert, hatte reglos am Tisch gesessen, inmitten der Söldner, hatte mit angehört, wie sie sich reihum an seiner Mutter vergingen. Wäre Tommaso noch am Leben gewesen, er hätte sie zu beschützen gewusst. Wie er es schon einmal getan hatte. Noch immer wünschte sich Aurelio, sein Herz möge ihn erlösen und aufhören zu schlagen. Doch es weigerte sich, schlug weiter, mit der Beharrlichkeit eines Steins. Eine wohltuende Vorstellung. Ein Stein. Zu Stein werden. Nicht mehr atmen, nie wieder fühlen oder denken müssen. Kein Schmerz. Kein Leid. Keine Schuld. Doch er würde nicht zu Stein werden. Es gab nur Fühlen, Denken, Leiden. Solange sein Herz schlüge, würde es keine Chance geben, nicht zu sein.
    Es begann bereits zu dämmern, als Aurelio endlich aufstand. Er nahm Trotula und führte sie nach draußen. Niemals brächte er es über sich, seine tote Mutter anzurühren, ihren Körper zu entblößen, ihren nackten, entstellten, misshandelten Leib anzusehen, die tödlichen Wunden, die der blonde Söldner ihr mit seinem Dolch zugefügt hatte. Und Matteo sollte sie auch nicht sehen. Nicht so – auf einem Lager aus blutgetränktem Stroh. Aurelio trug nach draußen, was von Nutzen war, und scheuchte die beiden Katzen aus dem Stall. In der Tür stehend, warf er einen Blick zurück auf Antonia, deren milchig schimmernde Füße und das halb unter ihren Haaren verborgene Gesicht im Zwielicht des Stalls seltsam entrückt anmuteten.
    Gefolgt von Trotula stieg Aurelio in die Senke hinab, wo ihn ein Geruch aus verkohltem Fleisch, Kot und Urin empfing. Er betrachtete die zertrampelte Wiese, die abgenagten Knochen, richtete seinen Blick hinauf zur Scheune, die neben dem Haus stand wie ein Kalb neben seiner Mutterkuh, zog einen noch glühenden Scheit aus der Asche und ging zurück. Der Wind kam von Osten. Das Feuer würde nicht auf das Haus überspringen. In der Tür stehend, betrachtete er seine Mutter zum letzten Mal. Im selben Augenblick quollen neue Tränen hervor. Diese Schuld würde er für den Rest seines Lebens mit sich herumtragen. Schnell schleuderte er den glühenden Scheit ins Stroh, schlug die Tür zu und sank vor dem Stall in sich zusammen.
    Das Stroh fing sofort Feuer. Aurelio hörte das zornige Knistern durch die Tür hindurch. Die Nächte waren kalt und feucht, das Holz noch klamm. Es dauerte einige Zeit, bis auch die dicken Balken das Feuer an sich heranließen und schließlich das Dach zu brennen anfing. Dann allerdings brachen sich die Flammen ungehindert Bahn, und in kürzester Zeit ragte eine alles verschlingende Feuersäule in den farblosen Himmel empor. Die Schwalben kreisten ungläubig um den träge aufsteigenden Rauch. Sie würden sich einen neuen Ort für ihr Nest suchen müssen.
    * * *
    Am dritten Tag kehrten Matteo, Giovanna und der kleine Luigi auf den Hof zurück. Statt des Stalls und seines Bruders fand Matteo Reste schwelender Asche und einen auf dem Trog kauernden, teilnahmslos vor sich hin blickenden Aurelio vor, der ihn ansah, als kenne er ihn nicht. Noch nicht einmal das verkrustete Blut hatte er sich vom Hals gewaschen. Aurelio musste nicht viel sagen. Sein Bruder und er hatten sich stets ohne viele Worte verstanden.
    »Im Stall«, gab er nur zur Antwort, als Matteo wissen wollte, wo ihre Mutter zu finden sei.
    Matteo verstand. Gut genug jedenfalls, um seinem Bruder keine Vorwürfe zu machen.
    »Ich werde gehen«, sagte Aurelio jetzt wie zu sich selbst.
    »Nach Rom«, antwortete Matteo, »ich weiß. Vater hat es mir gesagt.«
    * * *
    Es ist Zeit zu gehen. Das waren die Worte gewesen, die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher