Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel
Autoren: Leon Morell
Vom Netzwerk:
wieder den Platz in der Nische eingenommen hatte und sich unsichtbar zu machen versuchte. »Was habt ihr an Tieren auf eurem Hof?«
    »Ich könnte Euch die Tiere in meinem Stall aufzählen«, antwortete Antonia, »am Ende aber würdet Ihr doch selbst nachsehen.«
    Er tunkte das letzte Stück Brot in die Soße, lachte in die Runde und deutete mit dem Kinn zur Nische hinüber, als wolle er sagen: Gar nicht dumm, die Alte.
    Nachdem er ohne zu kauen den letzten Bissen hinuntergeschlungen hatte, lehnte er sich zurück. »Dein Stall? Ich dachte, dein Mann sei nur eben in die Stadt gefahren?«
    Antonia presste die Zähne aufeinander. Die ganze Zeit über hatte sie geschwiegen, und jetzt hatte sie sich doch verraten.
    Der Anführer ließ die Hände auf den Tisch fallen und erhob sich: »Wenn das so ist, dann zeig ihn mir doch mal, deinen Stall.«
    Aurelio trat hinzu: »Ich werde Euch den Stall zeigen«, beeilte er sich zu sagen.
    »Du, mein schöner Jüngling«, der Narbige legte ihm lachend eine Hand in den Nacken und steuerte ihn an den frei gewordenen Platz, »darfst solange meinen Platz einnehmen.«
    Er drückte Aurelio auf den Schemel. Die anderen lachten, ausgenommen die beiden Jungen.
    Aurelio wollte sofort wieder aufspringen, doch der Dicke zu seiner Rechten hielt ihm bereits einen Dolch an die Kehle. Einen scharfen Dolch. Aurelio fühlte die Klinge kaum, dennoch rannen bereits erste Blutstropfen seinen Hals hinab. Mit diesem Dolch ließe sich mühelos jede Kehle durchtrennen. Und Aurelios wäre sicher nicht die Erste. Er spürte eine zweite Klinge – auf seinem Handrücken. Der Söldner links von ihm, dessen Schweißgeruch alle anderen Gerüche an ihm erstickte, hatte ebenfalls unbemerkt seinen Dolch gezogen und hielt ihn quer über Aurelios Handrücken. Eine kurze Bewegung würde ausreichen, ihm die Sehnen sämtlicher Finger zu durchtrennen.
    »Tranquillo« , sagte der Anführer gedehnt. »Du wirst doch wohl den Platz in unserer Mitte nicht ausschlagen?«
    Aurelio verstummte.
    Die Pranke auf seiner Schulter bohrte sich schmerzhaft in Aurelios Muskeln. Er bemerkte, dass dem Daumen des Anführers der Nagel fehlte und die übrigen Nägel schwarz umrandet waren. Antonia konnte es nicht leiden, wenn man sich mit Erde unter den Nägeln zu Tisch setzte.
    Der Dolch des Dicken drückte sich in Aurelios Kehle. »Du bist etwas gefragt worden«, sagte er mit seiner Fistelstimme.
    »Nein«, presste Aurelio heraus.
    »Na bitte.« Die Finger mit den verdreckten Nägeln ließen von seiner Schulter ab. »Komm, meine hübsche Stute«, sagte der Anführer zu Antonia.
    Wieder lachten alle außer den Nachwuchssöldnern.
    Als er Antonia vor sich her aus der Tür schob, legte der Narbige ihr seine Hand auf den Hintern und drückte seine Finger hinein – dieselben Finger, die sich einen Moment zuvor in Aurelios Muskeln gebohrt hatten. Sie wich seinem Griff aus, blieb aber stumm. Aurelio warf sie einen Blick zu, der sich ihm ins Gedächtnis einbrannte: warm und voller Mitgefühl. Sie glaubte zu wissen, was sie im Stall erwartete, doch für ihre Familie hätte sie jedes Schicksal auf sich genommen. Ihr Blick sollte Aurelio ein Trost sein. Er sollte sich nicht um sie sorgen. Was immer jetzt kam: Sie würde es erdulden.
    Verzweifelt wandte Aurelio den Blick ab. Plötzlich schien der Raum seine Gestalt zu verändern, die Deckenbalken sich zu biegen, die Wände sich nach außen zu wölben – als wolle sich das Haus von innen nach außen stülpen. Sogar der Tisch bog sich unter einer unsichtbaren Last. Er hatte das Gefühl, sein Herz bliebe stehen.
    Bevor er die Tür hinter sich schloss, warf der Anführer über die Schulter hinweg ein verschwörerisches Lächeln in die Runde. »Kann ein Weilchen dauern.«
    * * *
    Aurelios Herz blieb nicht stehen. Nicht, als er die ersten unterdrückten Schreie aus dem Stall vernahm; nicht, als der Anführer zurückkehrte, mit schweißglänzender Stirn, und dem Dicken mit einem Kopfnicken bedeutete, dass die Reihe an ihm war; nicht, als dem Dicken der Alte folgte und dem Alten der Stinkende. Antonia versuchte, die Qualen möglichst lautlos über sich ergehen zu lassen. Dabei war die Stille für Aurelio noch unerträglicher, als es die unterdrückten Schreie waren. Er wusste, dass sie ihr Leid von ihm fernhalten, ihn schonen wollte. Er spürte Tränen auf seiner Wange. Nie hatte er sich so geschämt, sich so sehr verachtet, eine solche Ohnmacht empfunden – als kreise siedende Galle statt Blut in seinen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher