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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel
Autoren: Leon Morell
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sich die Wand entlang, stolperte über die Türzarge und fand den seines geliebten Gehilfen. Sein linker Mundwinkel verzog sich zu einem schmerzlichen Lächeln. »Aber ich lebe. Und das soll ich wohl auch … Alles, was ich jetzt noch tun kann, Aurelio, ist, den Rest meines unwürdigen Daseins darauf zu verwenden, meine Schuld abzutragen und Gottes Schöpfung zu preisen. Wenn ich nicht gar verflucht bin und fortan nur noch vergebens streben darf.«
    Die folgende Stille legte sich wie ein leichter Schneefall über den Raum, bedeckte die Möbel und hüllte auch den Bildhauer ein.
    »Ich werde nach Forlì zurückgehen«, sagte Aurelio.
    Die Worte standen im Raum wie ein steinernes Kreuz.
    »Ich weiß«, antwortete Michelangelo.

LXIV
    2 . November 1512
    »Was werdet Ihr tun, Maestro?«
    Sie waren auf dem Weg zum Petersplatz. Aurelio hatte seinen Sack geschultert. Die Zeichnung der Statue hielt er unter seinem Hemd verborgen. Er hatte das Gefühl, sie auf der Haut tragen zu müssen, wenn er ihrer wirklich sicher sein wollte. Von Zeit zu Zeit stieß das morgendliche Sonnenlicht durch die Wolken, schmiegte sich warm an eine Hauswand oder flößte einem Brunnen Leben ein. Bläuliche Flecken schimmerten durch das himmlische Grau. Nicht der schlechteste Tag, um eine Reise anzutreten. Der Regen der vergangenen Tage hing noch in den Mauern und schimmerte auf dem Straßenpflaster, stieg jedoch als nebliger Dampf auf und verflüchtigte sich, sobald er von der Sonne getroffen wurde. Michelangelo, eine kleine, hagere, gebeugte Gestalt mit wirren Haaren und einem struppigen Bart, ging halb neben, halb hinter seinem Gehilfen her – wie ein Hund, der sich wahllos einem Vorbeikommenden angeschlossen hat.
    »Du hast es gehört, Aurelio«, antwortete er nach einer Weile. »Ich bin verflucht. Das Julius-Grabmal … Es hätte mein Befreiungsschlag werden sollen. Jetzt ist es offenbar die Bürde meines Lebens.« Er verschränkte die Arme auf dem Rücken. Sein Oberkörper neigte sich noch ein Stück weiter nach vorne. Hätte er in dieser Haltung innegehalten, wäre er kopfüber auf das Pflaster geschlagen. »Vielleicht«, überlegte er, »verzeiht mir Gott meinen Hochmut, wenn ich ihm zu Ehren eine Statue von gleicher Erhabenheit erschaffe …«
    Aurelio war sicher, dass eine Statue wie die Aphrodite nur einmal gelingen konnte. Trotzdem fragte er seinen Meister: »Was für eine Statue könnte das sein?«
    Bis Michelangelo endlich antwortete, zweifelte Aurelio daran, ob er ihn überhaupt gehört hatte. »Kein wollüstiges, sinnlich-diabolisches Feuerwerk, sondern …« Er verlor sich in Gedanken. »Vielleicht, wenn ich … den Moses … Wer weiß …«
    * * *
    Auf dem Petersplatz, im Trubel emsig umherlaufender Menschen, verabschiedeten sich Michelangelo und Aurelio voneinander. Beiden erschien der Moment der Trennung seltsam unwirklich. Nicht einmal die innige Umarmung, die das Ende ihrer Verbindung markieren sollte, vermochte ihnen das Gefühl zu geben, dass dies die Wirklichkeit war, dass es tatsächlich geschah. Michelangelo war seltsam abwesend, verloren in einem Gedankenlabyrinth, in dem Zukunft und Vergangenheit zu tausend Irrwegen verwoben waren. Die Gegenwart schien ihm abhandengekommen zu sein. Das schützte ihn vor dem Verlust seines Geliebten.
    Ähnlich erging es Aurelio. Die Ereignisse der letzten Tage … Vieles davon hatte sich bereits jetzt so sehr von ihm entfernt, als habe er es nur geträumt. Die bevorstehende Reise erschien ihm wie ein Aufbruch in die Vergangenheit: Er roch den Duft frischen Weizens, fühlte die Wärme des steinernen Troges, nachdem die Julisonne ihn einen ganzen Tag lang erhitzt hatte, hörte das trockene Rascheln der Ähren kurz vor der Ernte. Er hatte das Zirpen der Grillen im Ohr, den Duft wilder Rosen in der Nase und den bittersüßen Geschmack einer überreifen Aprikose auf der Zunge. Er war ein Bauer. Aus Forlì. Er hatte gesehen, was ihm zu sehen bestimmt war. Nun war es an der Zeit zurückzukehren.
    Auf der Piazza Scossacavalli angekommen, drehte sich Aurelio ein letztes Mal um. Er sah seinen Meister als kleinen, dunklen Punkt verloren auf einem seiner hundert Marmorblöcke sitzen – wie einen zu früh gealterten Mann, der vergessen hatte, wer er war und woher er kam.

Epilog
    Michelangelo sollte recht behalten: Gott war so gnädig, Julius die Vollendung der Sixtinischen Kapelle erleben zu lassen. Zwei Tage später jedoch starb er. Paris de’ Grassi vermerkte in seiner Chronik, dass
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