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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel
Autoren: Leon Morell
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Kniekehlen getroffen, knickten seine Beine ein, und nur die zwei herbeispringenden Gardisten konnten im letzten Moment verhindern, dass er der Länge nach auf den Boden schlug.
    Kaum hatte er wieder festen Boden unter den Füßen, pflanzte er mit zittriger Hand seinen Stock vor sich auf. »Weg!«, keuchte er und machte mit dem freien Arm eine Bewegung, wie um lästige Insekten zu verscheuchen. Augenblicklich wichen die Wachen zurück. Er richtete seinen Blick auf die Statue. Seine Augen waren erfüllt von stummer Fassungslosigkeit.
    »Wie ist das möglich?«, flüsterte er kaum hörbar.
    Zögerlich näherte Julius sich der Frau, die er so verzweifelt geliebt hatte und die jetzt in göttlicher Überhöhung vor ihm schwebte. Wortlos verfolgten Aurelio und Michelangelo, wie seine Hand die Statue zu berühren versuchte. Doch es erging ihm wie dem Künstler und seinem Gehilfen: Er konnte sich nicht dazu bringen, sie anzufassen. Mit erhobener Hand, wie um eine Bestrafung abzuwehren, entfuhr Julius’ trockener Kehle ein schmerzlicher Klagelaut, ein letztes Aufbäumen im Angesicht der Übermacht seines Dämons.
    »Raus!«, rief er.
    Die Gardisten stürmten so schnell nach draußen, wie sie hereingekommen waren.
    Gewaltsam wandte Julius seinem Dämon den Rücken zu. So, wie er jetzt dastand, hinter sich die überlebensgroße Statue, konnte Aphrodite ihn jeden Moment auf ihre Arme nehmen und davontragen – oder ihn zerdrücken. Ganz nach Belieben.
    Mühevoll einen Fuß vor den anderen setzend, ging der Papst an Aurelio und seinem Meister vorbei zum Arbeitstisch hinüber. Der Gehilfe hörte, wie er nacheinander unterschiedliche Werkzeuge in die Hand nahm und wieder ablegte. Dann wurde die Mappe mit den Skizzen aufgeschlagen. Blätterrascheln. Das Geheimfach mit den Studien und Vorzeichnungen. Julius entdeckte es sofort. Er war Papst. Wenn sich einer mit Geheimfächern auskannte, dann er. Ein erneutes Stöhnen, wie von einem tödlich getroffenen Tier, als er dutzendfach seine nackte Geliebte erblicken musste. Dann waren nur noch das Prasseln des Regens, das leise Pfeifen von Michelangelos Nase und ein gelegentlich wieherndes Pferd zu hören.
    Der Papst schlurfte zur Kohlenpfanne hinüber. Die Skizzen und Zeichnungen für die Statue hielt er in der Hand. Aus den Augenwinkeln verfolgten Michelangelo und sein Gehilfe, wie Julius sie, eine nach der anderen, in die Pfanne gleiten ließ. Mit jeder neuen Zeichnung, die er den Flammen übergab, schien er von einem weiteren Schlag getroffen zu werden. Im Wiederschein der Glut wirkte sein Gesicht wie aus altem Holz geschnitzt. Er wartete, bis auch die letzte Zeichnung vollständig verbrannt war.
    »Steht auf!«, befahl er schließlich.
    Michelangelo und Aurelio erhoben sich von ihren Schemeln. Sie hatten lange auf ihr Urteil gewartet, nun wurde es gesprochen.
    »Dieses … Mirakel hier …« Er ging zu Michelangelo und richtete sich auf. »Es bezeugt zweierlei. Erstens: dass Ihr Euch in unentschuldbarer Weise gegen Gott und seinen Vertreter auf Erden versündigt habt und daher mit dem Tode bestraft werdet. Zweitens …« Sein Atem ging schwerer denn je. »Zweitens: dass Ihr der größte Bildhauer seid, der jemals auf Erden gelebt hat, und es folglich eine Sünde wäre, Euch zu töten.«
    In Aurelios Kopf ging alles durcheinander. Noch immer wartete er darauf, Aphrodite durch den Raum schweben und Julius davontragen zu sehen.
    »Ich verfüge also Folgendes«, nahm Julius den Faden wieder auf. »Ihr, Michelangelo Buonarroti, werdet diese sündige Statue auf der Stelle zerstören und den Rest Eures künstlerischen Lebens in meinen Dienst stellen, indem Ihr mein Grabmal fertigt, wie geplant, mit vierzig Statuen, von denen jede einzelne dieser hier an künstlerischer Qualität ebenbürtig sein wird, zur Lobpreisung des ewigen Schöpfers und seines irdischen Vertreters.« Er streifte Aurelio mit einem Blick, der zu besagen schien: Um dich kümmere ich mich später. »Dafür«, schloss er, »schenke ich Euch das Leben.«
    Der Bildhauer blickte Julius offen ins Gesicht. Da war nichts Kämpferisches mehr in Michelangelo, keine Herausforderung, kein Aufbegehren. Es gab nichts mehr zu kämpfen. Und es gab nichts zu verhandeln. »Ich werde mich nicht gegen mein Werk versündigen«, erklärte er.
    Julius’ hölzernes Gesicht zeigte Spuren von Verwunderung. »Ihr stellt Euren Willen über den Eures Schöpfers?«
    »Eure Heiligkeit: Glaubt Ihr, dieses Werk hätte ohne Gottes Zustimmung vollbracht
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