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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn
Autoren: Ralf Isau
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fast die gesamte DePriest-Sippe, außerdem etliche von den Simons und Sturges. Jerry kannte Dale Sturges sogar recht gut. Erst kürzlich hatte sie mit ihm vor dem Bellman Cottage Ball gespielt, als er und seine Frau Joyce zum Abendessen gekommen waren. Dale arbeitete mit Jerrys Mutter zusammen in der Krankenstation.
    Mit dem bisherigen Verlauf ihrer Operation waren die zwei Kundschafter unter der Sägemühle mehr als zufrieden. Vor lauter Begeisterung kicherten sie verräterisch laut, aber die Erwachsenen übertönten mit einer hitzigen Diskussion jedes verdächtige Geräusch.
    »Wenn er nicht in zehn Minuten zurück ist, dann gehen wir ohne ihn«, sagte eine Frau, die zu den Simons gehörte. Sie war hager und ziemlich klein. Ihr Sohn Anthony beteiligte sich nicht an dem Versteckspiel. Vielleicht war sie deshalb so nervös, denn Tony gehörte zur Sicherheitstruppe von Jonestown, die solcherlei Zeitvertreib gar nicht gerne sah.
    »Du bist verrückt!«, antwortete Edith DePriest barsch. John hatte sie ohne Schwierigkeiten identifiziert. Edith war eine imposante Person: etwas jünger als Tonys Mutter, aber erschreckend hoch gewachsen. Sie hatte einen starken Knochenbau, halblange braune Haare, ein breites Gesicht, auffälligen Bartwuchs, eine energische Stimme und große, von der Feldarbeit schwielige Hände. Den idealen Partner für Streitgespräche stellte man sich anders vor, doch das schien ihrer Kontrahentin wenig auszumachen.
    »Aber so haben wir es abgemacht: Jerry hat zwanzig Minuten, um seinen Sohn zu holen. Danach brechen wir ohne ihn auf.«
    Edith erhob sich zu ihrer ganzen beeindruckenden Größe und stemmte die Fäuste in die Seiten. »Ach, und wie sollen wir ohne ihn durch den Dschungel bis nach Venezuela kommen? Jerry ist am längsten von uns allen hier. Er kennt das Gebiet wie seine Westentasche. Gibt es sonst noch jemanden unter euch, der das von sich behaupten kann?«
    Die Antwort der anderen bestand in einem unverständlichen Gemurmel. Offenbar fühlte sich niemand zum Anführer berufen.
    Die Zeit verstrich, es wurde viel debattiert, aber Jerry Sturges kehrte nicht zurück. Daran änderte sich auch nach weiteren zwanzig Minuten nichts. Die Stimmung in der Gruppe war auf den Tiefpunkt gesunken.
    Schließlich brach Edith DePriest das lange Schweigen. »Lasst uns umkehren.«
    »Ihr wisst, was das bedeutet?«, gab Dale Sturges zu bedenken.
    »Der Junge hat Recht«, sagte eine Frau, die Jerry mit flüsternder Stimme als Patricia Sturges, die Mutter von Dale, identifizierte. »Wir könnten ziemliche Schwierigkeiten kriegen, wenn man uns auf die Schliche kommt. Der Reverend hat nicht viel Verständnis für Leute wie uns. Er nennt sie ›Verräter‹. Ich habe von aufgegriffenen Flüchtlingen gehört, die in Fußketten achtzehn Stunden am Tag arbeiten mussten, und das wochenlang. Andere hat man mit Drogen voll gepumpt, bis ihnen alles egal war.«
    »Würdest du Dad zurücklassen?«, fragte Dale.
    Patricia blickte ihren Sohn aus funkelnden Augen an. Eine Träne rann ihre Wange hinab. Trotzig wischte sie mit dem Ärmel ihres Kleides darüber hinweg und schüttelte den Kopf. »Nein. Niemand wird uns trennen. Und er ist zurückgegangen, weil er über euch Kinder genauso denkt.«
    »Dann bleiben wir alle hier.«
    »Aber wir planen diese Flucht jetzt schon seit Monaten«, widersprach ein Mann, dessen Gesicht nicht zu sehen war. »Wir haben unsere Habseligkeiten im Dschungel versteckt. Wenn wir jetzt in die Siedlung zurückkehren, werden wir alles verlieren.«
    »Als wenn irgendjemand von uns etwas besäße, was von wirklichem Wert ist!«, schnaubte Edith DePriest. »Nichts kann so schlimm sein, wie im Busch von giftigen Schlangen gebissen und von Ameisen gefressen zu werden. Ohne Jerry sind wir aufgeschmissen. Wenn wir uns beeilen, können wir noch den Congressman treffen. Vern Gosney sagte mir, er habe Mr Harris von der NBC gestern Nacht einen Zettel zugesteckt. Andere sollen sich direkt an Ryan gewandt haben, damit er sie aus Jonestown herausholt. Der Politiker hat ihnen Mut gemacht. Vielleicht kann er auch uns helfen, von hier fortzukommen.«
    Nach einigem Hin und Her entschied sich die Gruppe schließlich für das vermeintlich kleinere Übel. Aus ihrem Versteck heraus sahen die beiden Kinder den entmutigten Haufen zur Siedlung zurückkehren.
    »Jetzt wird’s spannend! Lass uns hinterherlaufen«, sagte John, als die anderen außer Hörweite waren, und Jerry nickte.

 
    AUF MESSERS
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