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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn
Autoren: Ralf Isau
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Vorzüge anderer Jagdgründe, was Jerrys Sehnsucht nach dem Versammlungszentrum nicht schmälerte. Im »Sperrgebiet« nutzten sie jede sich bietende Deckung, um nicht von »Mutter« entdeckt zu werden, wie Marcy, die Ehefrau des Reverend, in der Gemeinde genannt wurde. Die Bepflanzung im Umkreis des Pavillons leistete den beiden schlammigen Spionen beim Anpirschen nützliche Dienste. Nicht ganz fünfhundert Meter vor ihrem Ziel entdeckte Jerry neben der durchgeweichten Sandpiste einen gelben Kipper, auf dem sich mehr Leute befanden, als man an zehn Fingern abzählen konnte. Die Kinder suchten Schutz hinter einer Bananenstaude und beobachteten gebannt das Geschehen.
    Eine Reihe Erwachsener kletterte vom Lastwagen. Mehrere Männer trugen Fotoapparate, einer schleppte sich mit einer großen Filmkamera ab, einem anderen hing eine Ledertasche mit einem Tonbandgerät von der Schulter. Es waren dieselben Fremden, denen man am letzten Abend im Pavillon einen festlichen Empfang bereitet hatte. Die Ankömmlinge wurden von einem Mann in weißem Hemd und grauer Hose willkommen geheißen. Ihn hatte Vater Jones, im Gegensatz zur Mehrzahl der Gäste, innerhalb der Siedlung übernachten lassen. Die beiden mussten Freunde oder gute Bekannte sein, vermutete Jerry und kam damit der Wahrheit sehr nahe, weil Charles Garry dem Reverend als Rechtsberater diente.
    »Was soll das?«, beschwerte sich einer der Neuankömmlinge, noch während er vom Truck stieg. Der Mann im blauen Polohemd hatte üppig sprießendes, rötlich blondes Haar, unzählige Sommersprossen und ein zornrotes Gesicht.
    Garry, der Anwalt, ließ sich nicht provozieren. In seinem makellosen Hemd und der roten Krawatte strahlte er eine selbstbewusste Gelassenheit aus. Er rückte seine dickrandige schwarze Brille zurecht, lächelte ausgiebig und erwiderte sodann freundlich: »Wenn Sie mir sagen, worum es geht, Mr Harris, dann kann ich Ihnen vielleicht helfen.«
    »Es hieß, wir würden im Morgengrauen abgeholt. Jetzt ist es fast elf! Bis zu unserem Rückflug nach Georgetown bleiben uns – die Fahrt auf der Schlammpiste nach Port Kaituma eingerechnet – nicht einmal dreieinhalb Stunden. Ich bin geneigt, diese Verzögerung als ein Manöver des Reverend zu deuten, das nur einem Zweck dient: Er will unseren Aufenthalt hier auf ein Mindestmaß beschränken. Kommen Sie mir nachher nicht mit irgendwelchen Beschwerden, Mr Garry, wenn die NBC Ihrem Volkstempel in der Disziplin ›Offenheit gegenüber den Medien‹ einen satten Punktabzug gibt.«
    Der Rechtsanwalt lächelte immer noch. »Nun, ad eins: Es ist nicht ›mein Volkstempel‹; die Kirche wird von Mr James W. Jones geleitet. Ad zwei: Wenn in dem Bericht Ihres Senders die Schwierigkeiten, die wir mit unserem Transportmittel und den witterungsbedingt schlechten Straßenverhältnissen hatten, auf die von Ihnen besagte Weise umgedeutet werden, dann ist das doch wohl nicht die Meinung der NBC, sondern eher die eines – zu Recht – verärgerten Korrespondenten namens Don Harris. Gibt es irgendetwas, was Sie umstimmen kann, Mr Harris?«
    »Wie wäre es mit Offenheit?«
    »Lassen Sie uns zum Pavillon gehen. Dort warten schon der Reverend und mein Kollege Compte auf Sie. Wir hören uns die Wunschliste von Ihnen und Ihren geschätzten Kollegen an und sagen Ihnen dann, was wir für Sie tun können. Einverstanden?«
    Das Lächeln des Anwalts war zu glatt, um sich längere Zeit daran festzukrallen. Don Harris schluckte seinen Ärger herunter und verzog sein Gesicht zu einer versöhnlichen Miene. »Verstehen Sie mich nicht falsch, Mr Garry. Wir wollen eine faire Berichterstattung.«
    »Das möchten wir alle, Mr Harris. Bitte kommen Sie.«
    Jerry und John blickten dem Tross hinterher, der in Richtung Pavillon entschwand.
    »Mein Vater ist auch da«, sagte John und meinte damit den Reverend.
    Jerry sah ihren Freund fragend an. »Hast du Muffensausen?«
    »Wenn er mich erwischt, wird er böse.«
    »Dann machen wir was anderes.«
    John lächelte dankbar, nahm das Mädchen an die Hand und zog es aus dem Schatten der Bananenstaude hervor.
    Eine Weile streiften sie durch die Dschungelsiedlung. Jerry fragte sich, ob sie schon jemals so viele lachende und singende Menschen gesehen hatte. Die Begeisterung über den Besuch aus den Vereinigten Staaten musste enorm sein. Nur, irgendetwas irritierte sie an diesem Freudentaumel. Alles erschien ihr so maskenhaft, zerbrechlich, unbeständig… Sie besaß noch jene kindliche Unbefangenheit, die nicht
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