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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn
Autoren: Ralf Isau
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SCHNEIDE
     
     
     
    Jonestown (Guyana)
    18. November 1978
    13.11 Uhr
     
    Leo Joseph Ryan ließ sich die innere Anspannung nicht anmerken. Er strich sich über das Kinn, die Rasur könnte besser sein. Hätte er vielleicht doch eine Krawatte umbinden sollen? Jackie meinte, seine Tatkraft käme vor der Kamera in Hemdsärmeln erheblich überzeugender rüber. Ein Gähnen zerrte an seinen Kiefermuskeln. Die vergangene Nacht war kurz gewesen und die Hütte, die ihm und Jackie als Quartier gedient hatte, wenig komfortabel. Aber die Strapazen waren nicht umsonst gewesen. Er hatte noch ein paar aufschlussreiche Gespräche führen können, nachdem die meisten Gäste von Reverend Jones nach Port Kaituma zurückgeschickt worden waren. Auf seinem Kassettenrecorder befanden sich die Stimmen einer ganzen Anzahl von Personen, die dem Volkstempel den Rücken kehren wollten. In der Aktentasche seiner Assistentin steckte ein Packen eidesstattlicher Erklärungen von Aussteigern, in denen sie die Freiwilligkeit ihres Entschlusses bezeugten.
    Jim Jones galt nicht gerade als ein Hirte, der seine Schäfchen gerne ziehen ließ. Ryan war auf das Gesicht des Reverend gespannt, wenn dieser von dem kleinen Exodus in seiner Gemeinde erfuhr. Im Augenblick saß der Führer des Volkstempels im Pavillon auf einem Stuhl mit hoher Lehne, der auf dem Podium stand und wohl nicht von ungefähr einem Thron ähnlich sah. Hinter ihm ragte eine dunkelhäutige, glatzköpfige Gestalt auf, deren Anblick Ryan frösteln ließ. Jones ließ sich in der Öffentlichkeit nie ohne Bodyguards sehen. Verfolgungswahn? Oder gab es triftige Gründe für ein derart ausgeprägtes Schutzbedürfnis? Angeblich sollte der fromme Mann das Haus nie ohne seine 38er Magnum verlassen, was sich wegen des hellgrauen Sommersakkos, das er über dem blauen Hemd trug, weder bestätigen noch dementieren ließ. Ron Javers vom San Francisco Chronicle nutzte gerade seine Audienz, um dem Reverend dieselben Fragen zu stellen, die er schon von einer Reihe anderer Reporter und nicht zuletzt vom Congressman selbst gehört hatte: »Halten Sie die Leute hier gegen ihren Willen fest?« Jones’ Antwort klang genauso stereotyp: »Wo denken Sie hin! Jeder kann Jonestown verlassen, wann immer er will. Wir sind hier alle eine große Familie, die…«
    Ryan achtete kaum auf die Wortfetzen, die zu ihm herüberwehten und ständig vom Lachen und Singen irgendwelcher Leute übertönt wurden, die den Pavillon und seine Umgebung in eine Inszenierung der Lebenslust verwandelten. Seine Augen waren auf das Gesicht des »Racheengels« geheftet, der über den Reverend wachte. Am Vorabend hatte Jones den jungen Mann – er mochte fünfundzwanzig, höchstens achtundzwanzig Jahre alt sein – als Eugene Smith vorgestellt. Der Afroamerikaner war etwa ein Meter achtzig groß, muskulös und schien kein Gramm Fett zu viel unter seinem grünen T-Shirt zu haben. Seine braunen Knopfaugen suchten die Umgebung ständig nach Heckenschützen ab – so schien es wenigstens. Endlich glaubte Ryan zu wissen, weshalb er den Blick nicht von Jones’ Leibwächter nehmen konnte: Der Mann war nicht aus Überzeugung kahl, sondern aufgrund einer Laune der Natur. Smith besaß weder Augenbrauen noch Wimpern, weder einen Bart noch irgendwelche Armbehaarung.
    Ryan musste unwillkürlich lächeln. Seit Jahren kämpfte er nun schon gegen jede Art von Rassendiskriminierung und erschauerte trotzdem, wenn er einen »schwarzen Mann« sah – nach seiner Heimkehr würde er ein ernstes Wörtchen mit seiner Mutter zu reden haben. Entspannt lehnte er sich gegen einen der runden Holzpfosten, die das Wellblechdach der so genannten Versammlungshalle trugen. Seine Assistentin musste jeden Augenblick zurückkehren. K. Jacqueline Tailor hatte erst vor zwei Jahren ihren Abschluss auf dem Hastings College of the Law gemacht. Sie war jung, intelligent, hübsch und hungrig. Wenn er ihr eine glänzende Karriere prophezeite, dann war das keine Schmeichelei. Die brünette Achtundzwanzigjährige wollte etwas bewegen, und das gefiel Ryan. Er war froh, sie gerade hier an seiner Seite zu haben. Jackie hatte sich »für eine Minute« verabschiedet – sie müsse noch einmal die Liste der Aussteiger durchgehen, die Jonestown verlassen und mit ihm in die Hauptstadt Guyanas fliegen wollten. Ryan blickte auf seine Armbanduhr. Fünfzehn Minuten nach eins. Über Funk hatte er zusätzlich eine größere Chartermaschine angefordert. Sie würde um vierzehn Uhr dreißig landen. Viel
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