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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn
Autoren: Ralf Isau
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    FLUCHTGEDANKEN
     
     
     
    Jonestown (Guyana)
    18. November 1978
    10.42 Uhr
     
    Der tropische Regen ließ endlich nach. Es war eine Atempause, mehr nicht. Ehe die letzten Tröpfchen zu Boden fallen konnten, raffte der brausende Wind sie zusammen. Dunkle Wolken vor sich hertreibend, machte er sich mit seiner Beute auf die Suche nach einem glücklicheren Ort als diese Hütten und Felder da unten: Dort breitete sich zwischen Verzückung und Hoffnung ein feuchter, stinkender Brodem der Verzweiflung und Todesangst aus. Nicht nur am Himmel standen die Zeichen auf Sturm. Insgeheim wünschten sich viele, wie der Wind aus Jonestown entfliehen zu können.
    Jerry stapfte lustlos durch den Matsch. Ihre Mutter hatte sie in blauen Gummistiefeln und gelbem Regenparka vor die Tür geschickt, um etwas mit Vater bereden zu können; es gehe da um eine Überraschung… Was immer die beiden ausheckten, es musste ziemlich aufregend sein. Jerry hörte ihre angespannten Stimmen aus dem kleinen, alles andere als schalldichten Holzhaus dringen, das sich hochtrabend Bellman Cottage nannte. Gerade verschaffte sich ihr Vater Luft.
    »Du hättest zuerst mit mir reden müssen, bevor du dem Congressman eine derart brisante Nachricht zuspielst.«
    Jerry spitzte die Ohren. Die Antwort ihrer Mutter klang leiser, weniger vorwurfsvoll, dafür überrascht. »Aber wir waren uns doch einig, von hier fortzugehen, eher früher als zu spät. Jonestown ist nicht das Paradies auf Erden, sondern bestenfalls eine hübsch dekorierte Hölle – waren das nicht deine Worte, Lars? Wenn es nur um uns und unsere zerplatzten Träume ginge… Aber wir müssen an Jerry denken!«
    »Als wenn ich das nicht ständig täte! Ihre Zukunft liegt mir…«
    »Du redest von Zukunft?«, begehrte Rachel Bellman zornig auf. Jerry entging nicht der verzweifelte Unterton in der Stimme ihrer Mutter. »Muss ich dich erst an die Weißen Nächte erinnern? An die ›Übungen‹ mit den angeblich vergifteten Getränken? Lars, der Reverend ist krank. Sein ganzer Körper zittert, wenn er nicht rechtzeitig seine Drogen bekommt. Und was seinen Verstand anbelangt… Er spricht ständig von revolutionärem Selbstmord. Mein Kind soll nicht im Dunstkreis eines Mannes aufwachsen, dessen Steckenpferd der Tod ist.«
    Jerry rückte näher an die Hütte heran. Mit ihren fünf Jahren begriff sie zwar nur wenig von dem, was da drinnen gesagt wurde, aber dafür spürte sie umso intensiver die heftigen Gefühle ihrer Eltern. Die Stimme des Vaters klang einsichtig, beruhigend, doch auch besorgt.
    »Du hast ja Recht, Rachel. Wir werden von hier fortgehen, das habe ich dir versprochen. Aber vergiss bitte unsere Stellung in der Kirche nicht. Wir gehören dem inneren Kreis an. Ist dir klar, was es bedeuten würde, wenn wir zusammen mit Leo Ryan von hier fortgingen? Dieser Mann gehört dem Repräsentantenhaus des Kongresses an. Er genießt die Aufmerksamkeit der Medien. Du hast gestern Abend selbst gesehen, wie viele Nachrichtenleute er im Schlepptau hat. Vom San Francisco Examiner waren auch zwei dabei – an den Schmutz, den das Blatt in den letzten fünf, sechs Jahren über dem Tempel ausgeschüttet hat, muss ich dich ja wohl nicht erst erinnern. Und dann die NBC-Crew. Gleich vier Mann! Diese Meute wartet doch nur auf so eine Sensation. Ich bin ihrem Kameramann gestern vor dem Pavillon in die Arme gelaufen, während drinnen unsere Rockband spielte. Er heißt Robert Brown, eigentlich ein ganz sympathischer Kerl. Aber ich sage dir, er würde keinen Augenblick zögern, jeden unserer Schritte von hier bis nach San Francisco zu filmen. Diese Leute wissen gar nicht, was Privatsphäre ist. Für eine Topnachricht würden sie über Leichen gehen.«
    »Es muss ja nicht gleich zum Schlimmsten kommen, Lars.«
    »Bis du dir sicher? Was, denkst du, würde passieren, wenn wir heute in Ryans Flugzeug stiegen? Ich kann es dir sagen. Dieser Don Harris wird vor die Kamera treten und der Welt verkünden, Reverend Jim Jones liefen seine engsten Vertrauten weg.«
    »Das wäre schlimm. Der Reverend leidet noch unter dem Schock vom Frühjahr, als Debbie Blakeley uns verlassen hat…«
    Das plötzliche Schweigen der Mutter war mit verwirrenden Emotionen aufgeladen, die Jerry schaudern ließen. Das Kind spürte die Beklommenheit im Bellman Cottage wie einen kalten Nebel. Hatte es etwas angestellt, das den Eltern solche Sorgen bereitete? Nach einer Weile hörte es wieder seinen Vater sprechen, leise und undeutlich.
    »Jetzt
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