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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn
Autoren: Ralf Isau
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Wortwechsel umschlug. »Jackie, wir müssen die Leute hier mitnehmen. Sie genießen Priorität. Schreiben Sie bitte die Namen auf, lassen Sie sich die Erklärungen unterzeichnen, und wenn noch genügend Zeit ist, machen Sie Tonbandaufzeichnungen von…«
    »Ich kenne das Prozedere, Leo«, sagte Jackie mit der typischen Ungeduld junger Menschen.
    »Schon gut. Ich wollte…«
    »Sie haben mich nicht ausreden lassen«, fiel Edith dem Congressman laut ins Wort. Sie wirkte ziemlich ungehalten.
    Ryan befleißigte sich seines strahlendsten Politikerlächelns. »Verzeihen Sie, Mrs DePriest.«
    Edith deutete zum Podium hin. »Das da sind die Sturges, und wie es scheint, stecken sie in Schwierigkeiten.«
    Erst jetzt bemerkte Ryan, dass der Reporter des Chronicle sich nicht mehr im Pavillon befand. Dafür hatte Jim Jones neue Gesellschaft erhalten. Vor dem Thron standen fünf oder sechs Personen unterschiedlichen Alters und gestikulierten aufgeregt mit den Armen.
    »Geben Sie mir den Recorder, schnell!«, sagte Ryan. Er riss Jackie die Ledertasche mit dem Tonaufzeichnungsgerät aus der Hand und trat unter das Wellblechdach. So schnell wie es eben ging, ohne dabei den Anschein von Hektik zu erwecken, näherte er sich dem Podium am Kopfende der Freilufthalle. Das Erste, was er verstand, war die aufgeregte Stimme eines Mannes, der sich ihm bald als Dale Sturges vorstellen sollte.
    »… haben unser Geld weggenommen, die Pässe einkassiert – ich komme mir vor wie ein Gefangener.«
    »Deine Undankbarkeit zerreißt mir das Herz«, erwiderte Jones theatralisch und nicht ohne Groll. »Wenn ihr gehen wollt, dann werde ich euch nicht aufhalten. Ihr kriegt eure Pässe. Ich gebe dir sogar fünftausend Dollar für einen Neuanfang, wo immer das sein wird. Aber wartet wenigstens bis nächste Woche! Es würde ein schlechtes Licht auf die Kirche werfen, wenn ihr jetzt mit diesen Leuten…« Jones’ Kopf hatte sich ganz kurz in Ryans Richtung gedreht, wobei ihm der heraneilende Congressman aufgefallen war. Auf wundersame Weise wurde seine Stimme nun sanft wie die eines Hirten, der ein verlorenes Schäflein heimträgt. »Was euer Eigentum betrifft, Dale, solltest du wissen, wie sorgfältig ich es für euch aufbewahre. Einige eurer Brüder haben nie gelernt, mit Geld oder anderen Wertgegenständen umzugehen. Was ich tue, ist nur zu eurem Besten.«
    Endlich hatte Ryan, im Kopf eine überstürzt entworfene Strategie zur Klärung der Situation, die Gruppe erreicht. »Ich würde gerne noch für meinen Kongressausschuss ein Interview mit Ihnen führen, Reverend, aber wie es scheint, störe ich.«
    »Ganz und gar nicht, Mr Ryan«, erwiderte Jones in einem Ton, der eher das Gegenteil ausdrückte. Der Führer des Volkstempels war, obwohl von Krankheit, Drogen oder von beiden gezeichnet, ein stattlicher Mann. Seine dunklen Augenringe verbarg er hinter einer getönten Brille, die er ständig trug. Sein Gesicht sah teigig aus, was seiner legendären charismatischen Ausstrahlung eher abträglich war. Seine schmalen Lippen erinnerten an die sparsamen Federstriche eines Karikaturisten, der seinem Modell mit sicherer Hand den Zynismus ins Gesicht gemalt hatte. Jones trauerte der Elastizität früherer Tage nach. Er bewegte sich langsam. Obwohl sich in seinem schwarzen Schopf kein einziger grauer Faden zeigte, wirkte er mit siebenundvierzig bereits wie ein alter Mann. Und in den letzten Minuten hatte sich dieser Eindruck rapide verstärkt. Anscheinend kostete ihn die Konfrontation mit den Aussteigern die letzte Kraft.
    »Was ist mit den Leuten?«, fragte Ryan.
    »Mein Name ist Patricia Sturges. Wir möchten gerne in die Vereinigten Staaten zurückkehren«, antwortete eine ältere Frau, bevor ihr Hirte seine Sprachlosigkeit überwinden konnte.
    »Gibt es da ein Problem?«, erkundigte sich Ryan bei dem Reverend.
    »Absolut nicht. Wir waren uns nur noch nicht über den Zeitplan einig«, antwortete Jones.
    »Ich bin Ihnen gerne behilflich«, erbot sich Ryan, wobei er dem Reverend den Rücken zuwandte. Ehe der Herr von Jonestown Einspruch erheben konnte, war Ryans Reisegesellschaft um weitere sechs Personen angewachsen. Jim Jones blieb nicht viel mehr, als die Aussteiger zu umarmen. Er versicherte ihnen, sie könnten in das Agrarprojekt zurückkehren, wann immer ihnen der Sinn danach stehe.
    Die Sturges wollten zunächst nur weg und enteilten zu den Hütten, um ihre Habseligkeiten zu packen.
    »Und nun zu dem Interview«, sagte Ryan lächelnd.
    Jones ließ sich
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