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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn
Autoren: Ralf Isau
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mit dem Oberhaupt des Volkstempels die Klingen gekreuzt hatten. »Nur die Leute da.«
    »Du meinst die Männer vom Fernsehen und von den Zeitungen? Die verlassen uns gerade. Was ist so Besonders an denen? Du hast mich ja überhaupt nicht kommen sehen, so gebannt warst du von ihrem Anblick.«
    Jerry schwenkte ihren ausgestreckten Arm um einhundertachtzig Grad. »Ich will zu meiner Mama. Sie ist da hinten.«
    Eugenes Knopfaugen sahen sie durchdringend an, und Jerry glaubte, sich in eine Eisfigur zu verwandeln. Doch bevor dies ganz geschehen konnte, lachte er plötzlich. »Na, lauf schon! Ich habe ohnehin gerade Dringenderes zu tun.«
    Sie wirbelte herum, spürte eine Hand in Höhe ihres Hinterteils auf den Regenparka klatschen; dann war sie ihm entkommen. Nach einigen Metern drehte sie sich im Schutz eines Strauches nach Eugene um. Er war verschwunden.
    Jerry atmete auf und lief weiter in die Richtung, in der sie ihre Mutter zu finden hoffte. Die Beobachtungen der letzten Stunde hatten sie verwirrt. Als die Sturges und der Congressman mit dem Reverend gesprochen hatten, war etwas Unerklärliches geschehen. Sie kannte Vater Jones nur als einen Mann, dessen bloße Gegenwart Leute zum Verstummen bringen konnte. Aber nun wirkte er wie ein angeschossenes Tier, das schon zu lange vor seinen Jägern geflohen war. Im Pavillon hatten sich Gefühle ausgebreitet, die ihr fremd waren: klamme, zähe Empfindungen, die noch immer an ihr klebten und ihr Furcht einflößten.
    Es fing wieder an zu regnen. Gerade entfernte sich, dunkle Rußwolken ausstoßend, ein Lastwagen, auf dem die Männer vom Fernsehen und von den Zeitungen saßen. Der gelbe Kipper, der die Besucher am Vormittag ausgeladen hatte, wartete noch an derselben Stelle, um neue Fahrgäste aufzunehmen. Davor lagen sich die Sturges und die DePriests mit einer Anzahl anderer Menschen in den Armen und weinten. Eine Frau begann zu schreien, weil ihr Mann sie heimlich mit den Kindern verlassen wollte. Alles war so traurig!
    Jerry sehnte sich nach ihrer Mutter, konnte sie aber nicht entdecken. Da standen die zwei Rechtsanwälte des Reverend und machten wichtige Mienen. Der Congressman redete auf sie ein. Die Frau mit den langen braunen Haaren, die ihm zur Hand ging, flitzte umher, scheuchte die Wartenden wie Hühner mit ausgebreiteten Armen in Richtung Lastwagen und kritzelte zwischendurch immer wieder Notizen auf einem kleinen Brett. Jerry bemerkte einmal mehr Eugene Smith, der mit weit ausholenden Schritten an dem Truck vorbeilief, ohne die einander verabschiedenden Menschen zu beachten. Er hielt auf ein anderes, weiter entfernt stehendes und von dem Kipper halb verdecktes Fahrzeug zu, einen roten Traktor mit einem langen, tief liegenden Anhänger aus Metall. Auf der Ladefläche stapelte sich Holz. Mehrere Männer warteten vor dem Fuhrwerk, und als Eugene es erreichte, kletterten alle auf den Anhänger. Der Motor wurde angelassen, und der Traktor knatterte davon.
    »Ay, Jerry, aqui estas! Esta baya muy preocupada.«
    Das Mädchen fuhr zusammen. Spanisch gesprochene Sätze wie diese – »Jerry, da bist du ja! Ich habe mir schon Sorgen gemacht« – waren typisch für seine Mutter. Rachel Bellman hatte von ihrem Vater Mexikos Landessprache geerbt, und nun musste sie dieses Vermächtnis auf Biegen und Brechen an ihre Tochter weitergeben, selbst wenn sie dafür regelmäßig Unverständnis erntete.
    Jerry fehlte noch die rechte Wertschätzung für eine mehrsprachige Erziehung, sie hasste es nur, angestarrt zu werden.
    Schuldbewusst sah sie in das Gesicht ihrer Mutter und antwortete auf Spanisch: »Ich habe mit John gespielt.«
    »Vermutlich im Schweinekoben, so wie du aussiehst.«
    Jerry schaute an sich herab. Auf ihrem Regenparka konnte sie zwischen der Schlammschicht durchaus noch einige gelbe Flecken ausmachen. »John ist in eine Pfütze gesprungen.«
    Ihre Mutter lachte, rieb mit dem Daumen eine Stelle auf Jerrys Stirn sauber und platzierte dort einen Kuss. »An wem so viel Schmutz klebt, der kann nicht ganz unschuldig sein. Wir unterhalten uns später darüber. Komm jetzt, erst muss ich noch ein paar wichtige Dinge erledigen.«
    Das Mädchen ließ sich bei der Hand nehmen und zum gelben Lastwagen führen. Auf halbem Wege kamen ihnen im Eiltempo Charles Garry und Alan Compte, die beiden Anwälte des Reverend, entgegen. Sie schienen es kaum erwarten zu können, sich von ihm zu verabschieden; von Mutter und Tochter nahmen sie keine Notiz. In einigem Abstand hinter den beiden
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