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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn
Autoren: Ralf Isau
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geblickt, aber die obligatorische dunkle Brille des Reverend verhinderte dies. Ryan vollzog eine Geste, die ganz Jonestown einschloss, und wiederholte lächelnd seine bereits beim letzten Gespräch geäußerte Beruhigungsformel: Viele Angehörige des Volkstempels könnten sich nichts Besseres als ein Leben in Jonestown vorstellen, das der Welt ein leuchtendes Vorbild gebe.
    Die schmalen Lippen des Reverend nahmen eine Stellung ein, die mit viel gutem Willen als Lächeln gedeutet werden konnte. Zur Abgabe eines Statements konnte er sich jedoch nicht durchringen, sondern ließ sich dabei lieber von seinem Advokaten vertreten.
    Charles Garry beherrschte perfekt jenes Repertoire aus Sprache, Mimik und Gesten, mit denen die Anwälte der Welt unentwegt signalisieren, unter welchem Zeitdruck sie stehen und wie wichtig sie sind. Er schob sich die Aktentasche unter den Arm und begann auf den Congressman einzureden. »Vielen Dank für diese positive Beurteilung unseres Agrarprojektes, Mr Ryan. Ehe Sie jedoch weiter ausholen, lassen Sie mich Ihnen bitte in der gebotenen Kürze eines sagen: Mein Kollege, Mr Compte, und ich haben den Reverend gerade auf den neuesten Stand gebracht. Er kennt und akzeptiert auch die Zahl der Kirchenmitglieder, die Jonestown heute verlassen werden. So, und jetzt entschuldigen Sie uns bitte. Wir müssen zum Truck zurück. Man erwartet uns dort schon.«
    Ryan hatte seit seiner Ankunft in Guyana mehrmals die Klingen mit Jones’ Anwälten gekreuzt. Ihre arrogante Art gefiel ihm nicht besonders. Jetzt dagegen atmete er erleichtert auf und schüttelte erst Compte, dann Garry die Hand. »Ich bin beeindruckt, Mr Garry, von dem, was ich in Jonestown gesehen habe. Wie Sie wissen, wollte ich mich auf dieser Reise vergewissern, ob irgendjemand gegen seinen Willen im Volkstempel festgehalten wird; nicht allein die Besorgten Angehörigen äußern in dieser Hinsicht immer wieder Bedenken. Nach meiner Rückkehr in die USA werde ich jedoch viele Missverständnisse aufklären können.«
    »Das höre ich gerne, Mr Ryan.«
    »Gestern in Georgetown habe ich Ihnen aber auch Offenheit versprochen. Deshalb will ich Sie nicht darüber im Unklaren lassen, welchen Kritikpunkt ich in meinen Bericht aufnehmen muss: Die Dschungelsiedlung ist geografisch isoliert. Hinzu kommt der Gruppenzwang. Beides macht das Verlassen der Gemeinschaft für die Leute hier sehr schwer. Es gibt durchaus noch einige Personen, die diesen Wunsch hegen. Ihre eidesstattlichen Erklärungen befinden sich im Gepäck meiner Assistentin. Deshalb würde ich gerne noch eine weitere Nacht die Gastfreundschaft des Reverend in Anspruch nehmen und morgen mit diesen Menschen in die Hauptstadt fliegen.«
    Garry suchte Augenkontakt mit seinem Klienten, um dessen Zustimmung einzuholen. Als Jones zögerte, sagte der Anwalt: »Damit können Sie leben, Reverend, es ist ein guter Bericht. Die Kirche wird keinen Schaden nehmen, wenn einige wenige ihr den Rücken kehren. Im Gegenteil, wenn Sie die Leute in Frieden ziehen lassen, wird das in den Medien ein positives Echo…«
    »Congressman Ryan, du Scheißkerl!«
    Der blindwütige Aufschrei setzte dem vermittelnden Plädoyer des Anwalts ein jähes Ende. Urplötzlich verwandelte sich die versöhnliche Szene in ein tödliches Szenario. Scheinbar hatte niemand den Mann bemerkt, der von hinten an Ryan herangeschlichen war und jetzt den linken Arm um dessen Hals schlang, was dem Opfer sofort die Luft abschnürte.
    Ryan röchelte. Er wusste nicht, wie ihm geschah. Aus den Augenwinkeln bemerkte er ein Aufblitzen. Ein Messer! Schon spürte er kaltes Metall an seinem Hals. Verzweifelt griff er nach hinten, renkte sich dabei fast die Schulter aus, fühlte, wie die Spitze der Waffe in seine Haut eindrang, und bekam endlich – keinen Augenblick zu spät – den rechten Arm des Angreifers zu packen. Mit aller Kraft stemmte sich Ryan gegen den Stahl an, der ihm das Leben aus dem Leib schneiden wollte. Er spürte, wie er samt Gegner ins Wanken geriet, und konnte doch nichts dagegen tun. Als sie gemeinsam umkippten, kam es ihm merkwürdig langsam vor. Im Sturz erhaschte er einen Blick auf den Reverend, der von seinem Thron hochgefahren war und – sich nicht rührte.
    Dafür war die Hektik ringsherum umso größer. Erschreckt brachten sich einige der Anwesenden in Sicherheit, andere liefen herbei, um besser sehen zu können. Laute Schreie hallten über das Areal. »Lassen Sie ihn los, Sly!«, drang eine laute Stimme aus dem Tumult.
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