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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn
Autoren: Ralf Isau
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schwerfällig in seinen grob gezimmerten Thron sinken. »Was wollen Sie wissen, Congressman?«
    »Gibt es in Ihrer Kirche Folter oder disziplinarische Maßnahmen, bei denen physische oder psychische Gewalt angewendet wird, oder hat es jemals solche Fälle gegeben?«
     
     
    Ken Frielander schmunzelte vor sich hin. Er war zwar nur ein stiller Beobachter des Interviews seiner Kollegen vom NBC, aber es gefiel ihm, wie Don Harris seine Fragen, Akkupunkturnadeln gleich, in die Nerven des Reverend bohrte. Vor ihm hatte schon der Congressman gegen den Führer des Volkstempels gestichelt, ihn nach Folter, Waffen, Drogen und ähnlich unheiligen Dingen gefragt, bis Jones regelrecht ausgeflippt war. In der Nacht zuvor habe niemand vom Gehen gesprochen, und jetzt wollten ihn alle verlassen, lamentierte er. Sein Rechtsberater Garry hatte alle Mühe, ihn wieder zu beruhigen. Es seien ja nur sechs Personen, sechs von tausendzweihundert. Und Ryan, wohl selbst erschrocken über die heftige Reaktion des Reverend, versicherte mit Bezug auf die Siedler in Jonestown: »Ich höre viele sagen, dies sei das Beste, was ihnen jemals widerfahren konnte. Was hier getan wurde, ist von großer Bedeutung, sogar aus globaler Sicht.«
    Frielander schätzte die beruhigende Wirkung dieses amtlichen Lobes nicht sehr hoch ein, und er sollte Recht behalten. Don Harris widmete sich nun bereits seit einer Dreiviertelstunde denselben unbequemen Themen, die Ryan gerade durchgekaut hatte. In aggressivem Ton traktierte er Jim Jones mit verbalen Brandbomben, während Bob Browns Videokamera jede Veränderung in dessen Gesicht aufzeichnete. Der Reverend rang sich rhetorisch grelle, inhaltlich dagegen eher farblose Antworten ab und klang dabei zusehends feindseliger. Er beschwerte sich über die Nachrichtenmedien im Allgemeinen und ihre »ungerechtfertigten Anwürfe gegen den Volkstempel« im Besonderen. Schließlich – es mochte inzwischen zwei Uhr nachmittags sein – zischte er: »Warum gehen Sie nicht? Verschwinden Sie hier!«
    Harris hatte ein Einsehen mit dem geschundenen Mann. Er versicherte, die Berichterstattung über das Interview werde fair ausfallen, woraufhin Jones antwortete: »Ich hoffe, ich lebe noch lange genug, um Ihre Fairness zu sehen.«
    Mit dieser Antwort hatte keiner gerechnet. In ihr schwang eine unterschwellige Drohung, aber niemand unter den Anwesenden hätte für sein Empfinden die Wortwahl oder den Ton der pastoralen Erklärung verantwortlich machen können. So trat ein, wonach Jim Jones sich so sehr sehnte. Don Harris bedankte sich für das Interview, und Bob Brown packte die Kamera ein.
    Ken Frielander glaubte aus einem skurrilen Traum zu erwachen, als sein Kollege Greg Robinson ihm auf die Schulter klopfte.
    »Lass uns die Pferde satteln, Cowboy. Wir sind spät dran.«
     
     
    Ihr schrilles Kreischen ließ im näheren Umkreis Köpfe herumfahren, Füße mitten im Lauf verharren und Herzen für einen Moment stillstehen. Jerry wusste selbst nicht, warum sie der Anblick von Eugene Smith dermaßen erschreckt hatte. Sie konnte diesen Mann, den alle nur den »Haarlosen Eugene« nannten und der ständig mit dem Reverend flüsterte, zwar nicht besonders leiden, aber er hatte ihr noch nie etwas getan. Auch jetzt, wo sie hinter der Palme hervorgeschossen und ihm direkt in die Arme gelaufen war, fletschte er nur die weißen Zähne, weil er sich ein Lächeln abrang. Mit seinem ganz und gar unbehaarten Gesicht erinnerte er sie an eine Green Mama. Nun ja, die Farbe stimmte nicht ganz. Aber genau wie eine lauernde Giftschlange hielten seine Augen, in denen man fast kein Weiß sehen konnte, sie jetzt gefangen – er war zu diesem Zweck extra in die Knie gegangen. Anders als die Reptilien konnte er jedoch sprechen.
    »Na, Jerry, hast es mal wieder eilig, was?«
    »Lass mich los.« Sie hatte gerade in der Ferne den geblümten Regenmantel ihrer Mutter entschwinden sehen und ihr nachlaufen wollen.
    »Schon gut, junge Dame«, sagte der Haarlose Eugene, während er das Mädchen freigab. Er wuchs vor Jerry in Schwindel erregende Höhe, hob die angewinkelten Arme und präsentierte ein Paar helle Handflächen, als wolle er damit seine Harmlosigkeit beweisen. »Ich tue dir nichts. Hast du etwas Spannendes gesehen?«
    Jerrys Kopf lag nun im Nacken, ihr Mund stand offen. Sie starrte in das ebenholzfarbene Gesicht und gab keinen Pieps von sich.
    »Du hast Vater Jones beobachtet, stimmt’s?«
    Das Mädchen zeigte in den Pavillon, wo gerade noch die Reporter
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