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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn
Autoren: Ralf Isau
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Männern liefen Leo Ryan, Jackie Tailor und Richard Dwyer, der stellvertretende Missionschef der US-Botschaft in Georgetown. Die drei sprachen angeregt miteinander und blieben immer wieder für einige Augenblicke stehen. Als sie Rachel und Jerry bemerkten, nickte Ryan der Mutter unauffällig zu, streichelte der Tochter über den Kopf und entschuldigte sich mit der Bemerkung, er wolle den Reverend über den Stand der Dinge unterrichten. Damit hatten er und Dwyer sich einem möglicherweise unangenehmen Gespräch entzogen, das zu führen nun Jackie Tailors Aufgabe war.
    »Mrs Bellman.« Ryans Assistentin umschlang mit ihren Armen das Klemmbrett wie einen Rettungsring in stürmischer See. Dabei zeigte sie ein Lächeln, in das nur eine unangenehme Nachricht verpackt sein konnte. Auf das Kind blickend, fragte sie: »Kann ich sprechen?«
    Jerry sah die nette Frau verwundert an.
    Rachel zog die Kapuze über den von Regentropfen glitzernden blonden Lockenschopf ihrer Tochter und entgegnete: »Verklausulieren Sie’s einfach.«
    Der fragende Blick des Mädchens wanderte zu seiner Mutter.
    Tailor klopfte mit dem Zeigefinger auf die Rückseite ihres Klemmbrettes und sagte: »Da stehen einunddreißig Namen, abgesehen von dem Congressman und meiner Wenigkeit. Außerdem gibt es einen weiteren Index, die Bellmans sind darin vorgemerkt, die Simons… Kurz: Wir haben ein Kapazitätsproblem.«
    »Klingt dramatisch.«
    »So ernst nun auch wieder nicht, Mrs Bellman. Leo… Mr Ryan hat über Kurzwelle bereits eine weitere Maschine angefordert. Sie wird voraussichtlich erst morgen in Port Kaituma eintreffen. Er will auf alle Fälle so lange in Jonestown bleiben, bis…« Tailors Blick senkte sich wieder zu dem Mädchen hinab.
    »Bis alle Schismatiker evakuiert sind?«, schlug Rachel vor.
    Die Juristin lächelte dankbar. »Besser hätte ich es auch nicht ausdrücken können. Sehen Sie es einmal so: Wenn Sie an die Reihe kommen, sind die Medien längst verschwunden.«
    Rachel nickte. »Das wiederum hört sich gut an. Wir werden warten.«
    Jerry beobachtete, wie Miss Tailor ihrer Mutter die Hand entgegenstreckte, sie aber aus unerklärlichem Grund wieder zurückzog. Stattdessen sagte sie nur: »Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis, Mrs Bellman. Viel Glück!« Schon eilte sie davon.
    Jerry zog an der Hand ihrer Mutter, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. »Was ist ein Schismatiker, Mama?«
    Rachel strich ihrer Tochter zärtlich übers Haar. »Das ist so eine Art Forscher, Schatz. Er entdeckt neue Wege, wo andere nichts sehen.«
    Leo Ryan freute sich nicht gerade über die bevorstehende Aufgabe. Vielleicht ließ er sich deshalb so viel Zeit, Garry und Compte zu folgen. In den letzten ein bis anderthalb Stunden hatte sich das Klima in Jonestown dramatisch verschlechtert, und das lag nicht allein an dem tropischen Sturm, der nach Auskunft der Meteorologen bald über die Dschungelsiedlung hinwegfegen würde. Jim Jones hatte die Besucher regelrecht rausgeschmissen. Und jetzt würde sein unbequemster Gast für eine weitere Nacht um Quartier bitten müssen.
    Ryan atmete tief durch, nickte, um Richard Dwyer das Bild eines aufmerksamen Zuhörers zu vermitteln, und arbeitete dann in Gedanken weiter an seiner kleinen Ansprache, mit der er Reverend Jones beruhigen wollte. Er hatte schon ganz andere Situationen gemeistert. Als er 1974 zusammen mit Harold Hughes der »Firma« – besser als CIA bekannt – auf den Pelz rückte und sie per Gesetz dazu zwang, dem Kongress sämtliche Auslandseinsätze offen zu legen, machte er sich eine Menge Feinde. Im Jahr darauf reiste er nach Südvietnam, und einige der ihm noch verbliebenen Freunde erklärten ihn für lebensmüde (wenige Wochen später jagte der Vietcong die US-Army aus Saigon). Und nun Jonestown. Seine Vermutungen hatten sich bestätigt. Die Kollegen im Kongress würden seinen Bericht mit großem Interesse lesen.
    Rund um den Pavillon herrschte nach wie vor ein reger Betrieb. Der Reverend saß immer noch – oder schon wieder – auf seinem Thron. Das helle Sakko hatte er abgelegt. In seinem blauen Freizeithemd und der schwarzen Hose wirkte er nun weniger förmlich, eine zwanglose Fassade für einen aufs Äußerste angespannten Mann. Seine beiden Anwälte Garry und Compte redeten, den Gesten nach zu urteilen, beruhigend auf ihn ein. Mit dem Erscheinen von Ryan und Dwyer verstummte ihre Unterhaltung.
    Der Congressman befeuchtete sich mit der Zunge die Lippen. Er hätte jetzt gerne in Jones’ Augen
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