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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn
Autoren: Ralf Isau
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verstehst du, was ich meine, Rachel. Die stundenlangen Hasstiraden sind nicht das Schlimmste. Wenn der Reverend alles und jeden als ›faschistisch‹ abstempeln will – die Vereinigten Staaten, Congressman Ryan und was weiß ich, wen noch –, dann soll er es eben tun. Das geht vorüber. Er wird auch uns zu Verrätern erklären, sobald wir von hier fort sind. Auch damit können wir leben, Schatz. Was mir schlaflose Nächte bereitet, ist etwas ganz anderes. Jim Jones sät unablässig Furcht in die Herzen unserer Brüder und Schwestern.«
    »Mir läuft es jetzt noch kalt den Rücken runter, wenn ich an seine Drohung neulich denke: Jeden gefassten Abtrünnigen will er als Menschenstew an uns verfüttern.«
    »Nicht nur das. Er prophezeit uns ein Mordkomplott des CIA. Während der Weißen Nacht vor zwei Tagen hat er sich sogar zu der absurden Behauptung verstiegen, Leo Ryan – einer der lautesten Kritiker des Auslandsgeheimdienstes! – führe diese Verschwörung persönlich an. Um unser Blut zu trinken, seien diese ›Besorgten Angehörigen‹ in seinem Gefolge nach Jonestown gekommen. Verstehst du, warum ich in einer solchen Atmosphäre der Angst einen offenen Eklat vermeiden will, Rachel? Wenn Jim Jones vor der Weltöffentlichkeit sein Gesicht verliert, dann könnte er tatsächlich vergifteten Saft austeilen, und womöglich werden unsere Freunde ihn auch trinken. «
    »Aber wie soll er so etwas anstellen? Man benötigt dazu hochtoxische Stoffe. Solches Zeug hätte mir in der Klinik doch irgendwann auffallen müssen. Zugegeben, manchmal scheint mir Doktor Schacht mit Substanzen zu experimentieren, deren therapeutischen Nutzen ich nicht erkennen kann; vielleicht sind es nur Placebos. Er hat mich sogar schon einmal zur Schnecke gemacht, weil ich ihn wegen der allzu großzügigen Verabreichung von Valium und Librium zu kritisieren wagte. Aber dabei ging es um sedative Hypnotika, Lars, leichte Beruhigungsmittel. Es gibt bei weitem nicht genug davon, um ganz Jonestown zu vergiften.«
    »Ich habe neulich mit Harold Cordell gesprochen. Jemand aus der Schweinezucht hat ihm von einer größeren Lieferung erzählt, die vor einigen Wochen im Lagerschuppen versteckt worden ist. In den Behältern soll sich Zyankali befinden.«
    »Kaliumzyanid? Bist du sicher, der Mann hat wirklich Blausäuresalz gesehen?«
    »Auf dem Etikett sollen die Buchstaben ›KCN‹ gestanden haben.«
    »Dann ist es Zyankali. Ich fass es nicht! Das ist doch…«
    »Hochgradig giftig. Ich weiß.« Die Stimme von Jerrys Vater wurde plötzlich sehr leise. »Wir sitzen auf einem Pulverfass, Rachel, und ich will nicht derjenige sein, der die Lunte ansteckt. Wir müssen unter allen Umständen eine öffentliche Bloßstellung des Reverend vermeiden. Oder könntest du mit dem Gedanken leben, am Tod von eintausendzweihundert Menschen schuld zu sein?«
    Jerrys Ohr saugte sich förmlich an die äußere Hüttenwand, aber alles, was sie hierauf vernahm, war Stille. Erst nach einer Weile drang ein herzerweichendes Schluchzen zu ihr nach draußen. »Nein«, hörte sie ihre Mutter sagen, »nein, natürlich nicht. Aber irgendwie müssen wir diesem Wahnsinn doch ein Ende setzen, Lars! Vielleicht kann der Congressman wenigstens Jerry in Sicherheit bringen.«
    »Jerry allein…? Lass uns nichts überstürzen, Schatz. Und hab keine Angst. Mir wird schon etwas einfallen.«
    Nun trat eine noch längere Pause ein, die Jerrys noch wenig entwickelte Geduld über Gebühr strapazierte. Ihre Mutter hatte sie zum Spielen nach draußen geschickt und erklärt, sie solle dort bleiben, bis sie gerufen werde. Aber da rief niemand. Nur leises Weinen war aus der Hütte zu hören, ab und zu begleitet von dem beruhigenden Gemurmel des Vaters. Wenn ein Mensch litt, fühlte Jerry immer das zwanghafte Bedürfnis, den Gepeinigten zu trösten. Aber jetzt war ihr dies verboten. Wie übel riechende Ausdünstungen quollen Furcht und Sorge aus den Ritzen der Hütte, und Jerry konnte nichts dagegen tun. Bald wurde ihr der beißende Gestank unerträglich, und sie lief patschend davon.
    Missmutig hüpfte das weizenblonde Mädchen in eine große Pfütze. Das schlammige Wasser spritzte bis zu den Gummistiefeln eines kleinen blassen Jungen. Auch er trug eine gelbe Regenjacke. Unter der Kapuze sah sein Gesicht ernster aus als sonst, wenn Jerry mit ihm spielte. Sie kannte ihn gut. John Victor Stoen ließ keine Gelegenheit aus, den Erwachsenen sechs Finger entgegenzustrecken, womit er sein Alter kundzutun
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