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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn
Autoren: Ralf Isau
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pflegte. Jerry brauchte für derlei Auskünfte nur eine Hand, was sich zum Glück bald ändern würde.
    »Du hast mich mit Matsch bespritzt«, beschwerte sich John. »Ich gehe zu meinem Vater. Der wird dich ausschimpfen.«
    Jerry nahm diese Drohung durchaus ernst. Kein Geringerer als Reverend Jim Jones persönlich erhob Anspruch auf die Vaterschaft von John Victor. Darin befand er sich in unfriedlichem Wettstreit mit Timothy Stoen, dem ehemaligen Anwalt des Volkstempels. Der zog seit mehr als einem Jahr alle juristischen Register, um den von Jones festgehaltenen Knaben zurückzubekommen. Ein Sechsundfünfzig-Millionen-Dollar-Prozess gegen Jones und den Volkstempel war noch im Gange. Nicht nur der San Francisco Examiner und andere Zeitungen hatten an dem Gezerre ihre helle Freude. Auf Timothys Initiative ging die Gründung der Gruppe »Besorgte Angehörige« zurück, eines Sammelbeckens für ehemalige Mitglieder des Volkstempels, für deren Verwandte und Freunde und für andere, die in der Kirche von James Warren »Jim« Jones eine Gefahr witterten und sie am liebsten von der religiösen Landkarte fegen würden. Das Ehepaar Stoen gehörte auch zu den Vertretern der Besorgten Angehörigen, die Congressman Ryan nach Georgetown, der Hauptstadt Guyanas, begleitet hatten. Der Zutritt zum »Agrarprojekt« von Jonestown und damit die Chance auf ein Wiedersehen mit John Victor war ihnen vom Reverend jedoch verwehrt worden. Grace Stoen, die Mutter des umstrittenen Knaben, hielt in dem Vaterschaftsstreit übrigens fest zu ihrem Ehemann Timothy. Im Volkstempel gab man nicht viel darauf. Der charismatische Reverend war in der Gemeinde schließlich für seinen verschwenderischen Umgang mit Liebe bekannt. Im Laufe der Zeit hatte er damit nicht nur Marceline, seine Angetraute, überhäuft, sondern noch eine ganze Reihe anderer Personen – sogar dem Arzt Lawrence Schacht hatte er sich nach dessen Bekunden nicht verschlossen. Man mochte über das Verhältnis des Reverend zur Sexualität denken, was man wollte, im Hinblick auf den kleinen John Victor wollte er sich seiner väterlichen Verantwortung jedenfalls nicht entziehen. In Jerrys Bewusstsein existierte an diesem feuchten Samstag bestenfalls eine Skizze dieser verwirrenden Zusammenhänge, aber selbst die war abschreckend genug, um »Vater Jones« nicht unnötig in den matschigen Zwischenfall hineinzuziehen.
    Jerry zog den Kopf zwischen die Schultern, hielt sich die Hand vor den Mund und kicherte. Normalerweise war John sehr empfänglich für heitere Gesten. Und er neigte zu unvorhersehbaren Aktionen.
    Der Junge ging in die Knie, stieß sich mit aller Kraft vom Boden ab und riss zugleich beide Arme hoch. Einen Wimpernschlag später landete er mit beiden Füßen neben dem Mädchen. Die schlammige Brühe spritzte bis über ihre Köpfe. In einem Nu hatten sie sich in Moorzwerge verwandelt.
    »Kommst du mit?«, fragte John.
    »Wohin denn?«, erwiderte Jerry.
    »Weiß nicht.«
    »Heute wollen alle fort.«
    »Nach Russland?« Johns Frage kam nicht von ungefähr. Der Reverend hatte in den letzten Wochen häufig davon gesprochen, mit der ganzen Gemeinde in die Sowjetunion umzusiedeln.
    Jerry zuckte mit den Schultern.
    »Ich darf nicht zum Pavillon«, beschwerte sich der Junge.
    »Und warum nicht?«
    »Die Leute von gestern Abend kommen wieder. Sie sollen mich nicht sehen.«
    »Wir können uns ja verstecken.«
    »Gute Idee!«
    Die beiden Kinder stapften zwischen Hütten, Schlafsälen und Werkstätten hindurch in Richtung Pavillon. Von Palmen und Bananenstauden tropfte träge das Wasser des letzten Schauers herab. Das Areal von Jonestown umfasste mehr als fünfzehn Quadratkilometer Land, aber die eigentliche Siedlung beanspruchte nur etwa ein Viertel davon. Die Wege zum großen Pavillon waren mit dicken Bohlen belegt, damit man zur Regenzeit nicht ständig durch Schlamm waten musste. Was andere schreckte, bedeutete für das Mädchen und den Jungen eine unwiderstehliche Versuchung – die beiden vermieden es tunlichst, die hölzernen Pfade zu betreten. Sie schlichen an der Schule vorbei, wo er kürzlich von Mr Rhodes einen vertrockneten Seestern geschenkt bekommen haben wollte.
    Das Eindringen in den für John verbotenen Bezirk war aufregend, für ihn allerdings auf eine andere Weise als für Jerry. Er beschrieb seine Gefühle mit einem Wort, das sie noch nicht kannte, wenngleich sie zu verstehen glaubte, was er mit »Muffensausen« meinte. In schillerndsten Farben schilderte er ihr die
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