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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn
Autoren: Ralf Isau
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hinter jedem Mummenschanz sofort die Täuschung wittert.
    Durch die offen stehende Tür eines Hauses konnte sie einige ihrer Spielkameraden vor einem Fernsehgerät sitzen sehen. Es lief gerade eine Kindersendung. Jemand winkte ihr zu. Jerry grüßte zurück und ließ sich von John weiterschieben. Bald entdeckten sie kleinere Gruppen von Besuchern. Familienangehörige fielen sich in die Arme. Die Leute vom Fernsehen filmten, die von den Zeitungen fotografierten, und alle stellten sie eine Menge Fragen.
    Auch den Congressman bekamen die beiden Kinder zu Gesicht. Mit seinen dreiundfünfzig Jahren war Leo Ryan für sie schon ein steinalter Mann. Auf seine Freunde und Feinde wirkte er dagegen äußerst dynamisch. Trotz der hohen Stirn war sein blondes, links gescheiteltes Haar noch voll und nur an den Schläfen ergraut. Sein rundes Kinn verriet Nehmerqualitäten, und seine gerade Nase wirkte wie aus Marmor gemeißelt. Wenn er ein vermeintliches Recht einforderte, dann konnte sein sonst eher ansteckendes Lächeln enorm zwingend wirken. Gerade versuchte er sich Zugang zum Jane Pittman House zu verschaffen. Charles Garry und Alan Compte, die beiden Rechtsanwälte des Reverend, sträubten sich dagegen. Sie baten um Wahrung der Privatsphäre für die betagten Bewohner des Hauses. Jemand aus Ryans Gruppe rief: »Ihr wollt uns nur nicht reinlassen, weil sie da drinnen wie die Sardinen in der Büchse liegen.«
    Mittlerweile verließen viele der Betagten das Gebäude. Als es fast menschenleer war, bekam Ryan schließlich doch seine Genehmigung. Die Presseleute drängelten sich durch die Tür und freuten sich im Haus über so rührende Fotomotive wie kränkliche alte Leute in dreistöckigen Betten.
    Jerry konnte sich noch gut daran erinnern, selbst eine Zeit lang mit ihren Eltern unter Fremden in einer engen Hütte gewohnt zu haben, bis dann neue Gebäude fertig gestellt worden waren und man den Wohnraum großzügiger verteilen konnte. Das Hickhack beim Jane Pittman House hatte sich inzwischen gelegt, und die Kinder gelüstete es nach Abenteuern.
    »Ich werde Astronaut, wenn ich groß bin«, sagte John, als sie bald darauf die Peripherie der Siedlung durchstreiften.
    »Und ich Forscherin«, antwortete Jerry. Ihre Mutter hatte ihr davon erzählt, was für ein unbeschreibliches Vergnügen es war, nach immer Neuem zu forschen.
    »Und was ist das?«
    »Jemand, der nie mit dem Suchen aufhört.«
    »Das ist doch langweilig.«
    Jerrys umherschweifender Forscherblick streifte ein einzelnes Gebäude am Waldrand. Dabei bemerkte sie eine Bewegung, die ihre Neugier weckte. Rasch streckte sie einen Arm aus, der Zeigefinger reckte sich. »Schau mal, da!«
    John verlängerte in Gedanken die Linie ihres Armes, bis er es auch sehen konnte: Ein Mann entfernte sich von der Sägemühle. Mehrere Köpfe lugten hinter dem Gebäude hervor.
    »Spielen die Verstecken?«, fragte Jerry.
    »Wenn, dann wollen sie Onkel Sturges nicht mitspielen lassen«, erwiderte John.
    Jetzt erkannte auch Jerry den Mann, der mit langen Schritten zur Siedlung strebte. Ihr Spitzname war auch der seine. Aber warum hatte es Jerry Sturges so eilig?
    »Ich schleiche mich an«, verkündete sie unvermittelt und lief zu einem Holzzaun, hinter dem sie sich verstecken konnte.
    Nun begann eine generalstabsmäßig durchgeführte Spionageaktion. Die Sägemühle ständig als Deckung zwischen sich und die Gegenpartei haltend, näherte sich der zweiköpfige Erkundungstrupp schnell und einigermaßen lautlos den Zielobjekten. Die zuvor aufgetragene Schlammtarnung machte das Team so gut wie unsichtbar, weshalb die Annäherung unentdeckt blieb. Das Gebäude stand auf Holzpfosten, was sich als Glücksfall erwies. Das Duo kroch wieselflink darunter und näherte sich, durch den Schmutz robbend, den »Versteckspielern« auf der anderen Seite des Schuppens. Zwischen zwei Holzstapeln bezogen Jerry und John ihren Lauschposten. Zum ersten Mal konnten sie alle Heimlichtuer auf einmal sehen und waren überrascht.
    Da kauerten wesentlich mehr Erwachsene beieinander, als die vier oder fünf zuvor gesichteten Köpfe hatten vermuten lassen. In ihrer Mitte befanden sich außerdem mehrere Jugendliche und Kinder. Alle waren hellhäutig, in Jonestown mit seinem Gemisch unterschiedlichster Rassen eine Besonderheit. John, der Zahlenspezialist unter den beiden Spionen, ermittelte eine Anzahl von zwanzig Personen. Die stillen Beobachter konnten nicht jede Zielperson eindeutig mit Namen identifizieren, aber da hockte
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