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Ich bin unschuldig

Ich bin unschuldig

Titel: Ich bin unschuldig
Autoren: Sabine Durrant
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Freitag
    Ich habe das Haus heute früher verlassen als gewohnt, und obwohl es nicht mehr ganz dunkel ist, ist es auch noch nicht hell. Der Wandsworth Common ist voller Geister und Schatten; wie eisengepanzerte, starre Gestalten ragen die Bäume in den Dunst der ersten Frühlingstage; die Sträucher und Brombeeren an den Eisenbahnschienen ein dicht verfilztes Gewirr: ein Paradies für finstere Gestalten, aber darüber mag ich gar nicht nachdenken.
    Ich nehme die gewohnte Route – über die Brücke und um die Fußballfelder herum, die matschig und aufgewühlt sind wie ein kabbeliges Meer. Da wo der Weg auf die Ecke trifft, ist es am dunkelsten, und einen unbehaglichen Augenblick lang ist man eingezwängt zwischen den Eisenbahnschienen auf der einen und dem Abenteuerspielplatz auf der anderen Seite. Ein blauer Anorak, der durchweicht über einem Pfosten hängt, verleiht diesem eine gruselig menschliche Gestalt, und ich beschleunige meine Schritte, bis der Weg über die offene Wiese zur Hauptstraße führt. Autoscheinwerfer streichen über den Bürgersteig – Pendler, die, falls das überhaupt möglich ist, noch früher zur Arbeit müssen als ich. Ein Schemen kommt fast lautlos auf mich zu, ein anderer Läufer, ein Aufblitzen von Kopfhörern und Lycra, verschwunden in einem Atemzug, zurück bleibt ein Hauch von Wärme und Schweiß. In London ist man nie allein, selbst mitten in der Nacht, selbst in der klirrenden Kälte vor der Morgendämmerung im März. Es besteht immer die Möglichkeit, dass einen jemand beobachtet, einem folgt, sieht, was man im Schilde führt. Ich weiß nicht, ob mir das gefällt.
    Das Laufen hilft. Das Tempo, der Rhythmus, das Gefühl regelmäßiger Bewegung der Beine bringt Ordnung in meine Gedanken. Letzte Nacht habe ich nicht gut geschlafen. Selbst in den kurzen Phasen der Bewusstlosigkeit habe ich geträumt, ich sei wach. Am Ende musste ich aufstehen. Ich konzentriere mich auf das Atmen. Ein, aus. Ein, aus. Ich werde laufen und versuchen, den Kopf klar zu kriegen, und wenn ich zu Hause bin, gehe ich unter die Dusche, und um sieben kommt Steve, um mich ins Studio zu fahren. Abschiedskuss für Millie – Marta macht ihr Frühstück. (Ich sollte versuchen, Marta mehr zu mögen.) Ob Philip noch da ist? Wahrscheinlich nicht. Er ist jetzt sicher schon – was, Viertel nach fünf? – unter der Dusche, rasiert sich, schüttelt das Nobu und das Dorchester ab – ich habe die Zigarren gerochen, als er um drei Uhr reingestolpert kam –, zwängt sich in seine eng anliegenden Fahrradklamotten und radelt auf seinem funkelnagelneuen Karbonfahrrad nach Mayfair, Tokio, Bloomberg. Früher sind wir zusammen gelaufen. (Passende Laufjacken mit Kapuzen, Sie und Er, von Asics . Ist es bescheuert, dass ich das toll fand?) Doch seit letztem Sommer sind wir nicht mehr zusammen gelaufen. So wie es in der City läuft, sagt er, braucht er ernsthaftes Muskeltraining. Er braucht starken Widerstand. Laufen, sagt er, wird seinem Stress nicht im Entferntesten gerecht.
    Mein Atem geht stoßweise. Ich spüre ihn warm in der Brust. Es ist alles falsch, ich kriege es nicht richtig hin. Ich bin hoffnungslos; nicht mal richtig laufen kann ich. Ich biege in den Mittelweg ein, an der sentimentalen Bank vorbei, wo jemand an Weihnachten einen Kranz festbindet (» MUM «). Vielleicht hilft es, erst einmal die Belanglosigkeiten auszusortieren: Philips Eltern warten auf eine Antwort wegen des Essens am Sonntag. Millies nachgeholter Geburtstag: Ich muss Philip bitten, ihn nicht zu vergessen. (Wie hat er es fertiggebracht, am Dienstag nicht aufzutauchen?) Das Wochenende in Brighton … Wenn ich daran denke, passiert in meinem Magen etwas Schreckliches. Er sagte, er habe zu viel zu tun. »Kein Ding«, habe ich gesagt, auch wenn das überhaupt nicht stimmte. So eine Formulierung benutze ich normalerweise nicht. Es war, als wolle ich jünger und kecker wirken. India, das Mädchen auf der Arbeit mit dem kieferorthopädisch perfekten Lächeln, Stan Kennedys Protegé, hübsch und clever genug, um ein Auge auf meinen Job zu werfen. Kein Ding? Hat Philip mich seltsam angesehen, als ich es gesagt habe? Habe ich mich angehört, als versuchte ich, cool zu sein? Kein Ding – keine große Sache. Aber die ganzen Sachen sind groß, das ist ja das Problem. Was ist belanglos? Was ist ernst? Essen am Sonntag mit Philips Eltern, sexy Unterwäsche in einer Hotelsuite in Brighton, die perlweißen Zähne einer jüngeren Frau, eine Achtjährige, die ihre
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