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Eine unbeliebte Frau

Titel: Eine unbeliebte Frau
Autoren: Nele Neuhaus
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Sonntag, 28. August 2005
    Pia Kirchhoff lehnte am Zaun der Koppel. Sie hatte die Arme auf die oberste Stange gelegt und beobachtete zufrieden ihre beiden Pferde, die durch das taufeuchte Gras schritten, hin und wieder ein Maul voll abrupften, jedes für sich auf der Suche nach der Stelle, an der das Gras am saftigsten erschien.
    Die aufgehende Sonne ließ die Tautropfen glitzern und das Fell der Pferde schimmern. Pia sah lächelnd zu, wie die beiden Pferde Schritt für Schritt nebeneinanderher mit gesenktem Kopf über die große, mit hohen Bäumen bestandene Koppel zogen, und stieß einen zufriedenen Seufzer aus. Die Trennung von Henning hatte, im Nachhinein betrachtet, nur Gutes gehabt. Nach sechzehn Jahren in der Stadt, in schicken und luxuriösen Altbauwohnungen im Frankfurter Westend und Sachsenhausen, nach sechzehn Jahren, in denen sie die Rolle der Ehefrau des Dr. Henning Kirchhoff gespielt hatte, war sie nun mit achtunddreißig Jahren ganz sie selbst. Glückliche Umstände hatten sie den kleinen Hof direkt an der A66 Richtung Wiesbaden finden lassen, auf dem sie mit ihren beiden Pferden leben konnte. Statt eines BMW Cabrio fuhr sie jetzt einen Geländewagen. Ihre Freizeit verbrachte sie damit, den kleinen Hof auf Vordermann zu bringen, die Pferdeboxen auszumisten, Stroh- und Heuballen zu stapeln und das Haus zu renovieren. Seit einem Monat arbeitete sie wieder in ihrem alten Beruf bei der Kriminalpolizei. Es wareine ebenso glückliche Fügung wie der Erwerb des Birkenhofs in Unterliederbach, dass sie eine Stelle beim erst vor zwei Jahren eingerichteten K11 der Hofheimer Kriminaldirektion bekommen hatte. Eigentlich hätte an diesem Wochenende ihr Kollege Frank Behnke Bereitschaftsdienst gehabt, aber als er sie gefragt hatte, ob sie den Dienst übernehmen könnte, hatte sie ja gesagt. Es war Viertel nach sieben, als ihr die Leitstelle mitteilte, dass ein Winzer aus Hochheim eine halbe Stunde zuvor die Leiche eines Mannes in seinem Weinberg gefunden habe. Pia verschob das Stallausmisten auf später, tauschte die alte Jeans gegen eine saubere und fuhr die geschotterte Auffahrt des Birkenhofes hinunter. Ein letzter Blick auf die beiden Pferde, die Gras, Wasser und ausreichend Schatten hatten. Dann konzentrierte sie sich auf den ersten eigenen Fall in ihrem neuen Job.
     
    Es wäre das erste Mal gewesen, dass Cosima vor dem Abflug nicht irgendetwas Lebenswichtiges in ihrem Büro vergessen hätte. Deshalb war Oliver von Bodenstein auch nicht sonderlich überrascht, als seiner Frau morgens um halb acht siedendheiß die Frachtpapiere für die Kameraausrüstung einfielen, die noch im Tresor in den Räumen ihrer Firma lagen. Das bereits vorbereitete Abschiedsfrühstück wurde gestrichen, und der Abschied von Tochter und Hund fand überstürzt zwischen Tür und Angel statt.
    »Wo ist dein Bruder?«, fragte Cosima ihre siebzehnjährige Tochter, die mit zerzausten Haaren und glasigen Augen gähnend auf der untersten Treppenstufe saß, unsanft mitten aus dem sonntagmorgendlichen Tiefschlaf gerissen. Eine überstürzte Abreise der Mutter in irgendein fernes Land und ihre wochenlange Abwesenheit war sie von Kindesbeinen an gewohnt.
    »Der liegt wahrscheinlich noch irgendwo im Koma«, Rosaliezuckte die Schultern. »Seine Schnalle hat zur Abwechslung mal ihm den Laufpass gegeben. Das hat ihn ziemlich fertiggemacht.«
    Die schnell wechselnden Freundinnen ihres älteren Bruders waren ihr ebenfalls schon zur Gewohnheit geworden, die regelmäßig auf eine leidenschaftliche und nervtötende Verliebtheit folgende Trennung nach etwa vier bis sechs Monaten war im Hause Bodenstein längst kein Gesprächsthema mehr.
    »Wir müssen los, Cosima«, Bodenstein erschien in der Haustür. »Es muss nur noch etwas dazwischenkommen, dann fliegt das Flugzeug ohne dich nach Südamerika.«
    »Pass auf dich auf, meine Kleine«, Cosima zauste ihrer Tochter liebevoll das Haar. »Und geh in die Schule, auch wenn ich nicht da bin.«
    »Klar doch«, Rosalie verdrehte die Augen und stand auf, um ihre Mutter zum Abschied zu umarmen, »pass du auch auf dich auf. Ich komm hier schon klar.«
    Mutter und Tochter sahen sich an und lächelten ein wenig gezwungen. Sie waren sich zu ähnlich, um sich wirklich gut zu verstehen.
     
    Es war ein trockener, goldener Spätsommermorgen. Der blaue Himmel wölbte sich wolkenlos über dem Taunus, die Sonne schmolz die dünnen Schleier des Morgennebels und versprach einen warmen Tag.
    »Lorenz hat Liebeskummer«, Cosima klang
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