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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn
Autoren: Ralf Isau
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entschwand. »Dann geh doch!«, zischte sie, verschränkte die Arme vor der Brust und drehte sich um. Wütend starrte sie die beschädigte Sonnenuhr an. Nein, sie war keine Gefühlsspielerin, sondern nur ein schwaches, kleines Mädchen, dem man die Eltern gestohlen hatte…
    Aber noch gab es ihren Vater, der sie brauchte. Saraf hatte ihn in die Welt der Fühlenden zurückgeführt. Und wenn in ihr wirklich ein Abglanz jener Gabe steckte… Die Szene in dem Hubschrauber tauchte wieder vor ihrem inneren Auge auf. Im Angesicht des Todes hatte sie ihr Unterbewusstsein nach außen gekehrt und mit einem Mal erkannt…
    »Saraf, warte!«, rief sie und lief auf die Treppe zu.
    Als sie die oberste Stufe erreichte, konnte sie ihn nicht sehen. Panik breitete sich in ihr aus. So schnell es die Sichtverhältnisse erlaubten, rannte sie die verwinkelte Treppe hinab. Was, wenn er die Stadt schon verlassen hatte? Im Dschungel würde sie ihn niemals finden.
    »Saraf!«, schrie sie und lief weiter.
    Mit einem Mal entdeckte sie vor sich einen Schemen. »Bitte warte doch, ich muss dir etwas sagen!«, rief sie.
    Die hohe Gestalt blieb mitten auf der heiligen Plaza stehen.
    Als Yeremi atemlos Saraf Argyr erreichte, breitete er diesmal nicht die Arme aus, um sie zu empfangen. Seltsam distanziert, den Oberkörper wie zum Gehen gewandt, stand er da und sah sie fragend an.
    »Wir beide haben dieselbe typische Kombination von Blutgruppe und Rhesusfaktor«, stieß sie hervor.
    Er rührte sich nicht.
    »Außerdem stammt der Vater meiner Mutter aus Aguascalientes, demselben Ort, in dem einst die Silbernen in Katakomben lebten und in dem der erste Saraf Argyr geboren wurde.«
    Saraf trat einen Schritt auf sie zu.
    »Meine Mutter soll immer gesagt haben, ihr Vater sei blond wie ein Wikinger gewesen. Wir beide sind blond, Saraf!«
    »Aber du hast braune Augen«, erwiderte er.
    »Ja, weil in meinen Adern das Blut vieler Völker fließt, aber…«
    »Aber?«
    Sie atmete lang aus. »Aber auch das unserer gemeinsamen Vorfahren. Du selbst hast mir in meinem Zelt die Geschichte deines Volkes erzählt, um sie zu meiner eigenen zu machen – ich war wirklich schwer von Begriff. Du sagtest, nicht die ganze Sippe des jungen Saraf Argyr sei einst nach Süden gezogen. Einige Familien müssen zurückgeblieben sein und sich mit anderen Volksgruppen vermischt haben. Nur alle paar Generationen kommt das Erbe der Weißen Götter wieder zum Vorschein, vielleicht wenn eine günstige Konstellation von Genen auftritt.«
    »Und was willst du mir damit erklären?«, fragte Saraf erwartungsvoll.
    Yeremi trat dicht an ihn heran und blickte ihm fest in die Augen. »Dass ich eine Silberne bin – so wie du.«
    Im Licht des Vollmondes begannen Sarafs Augen wie blaue Sterne zu funkeln. Sie füllten sich rasch mit Tränen, die das Glück in seinem Herzen nach außen schwemmten. Jetzt breitete er die Arme aus, und Yeremi zögerte nicht, sich hineinsinken zu lassen.
    »Ich liebe dich!«, sagte er mit zitternder Stimme. »Fast glaubte ich, dich am Ende doch zu verlieren.«
    »Und ich liebe dich auch, Saraf, mein lieber, lieber Saraf.« Sie küsste ihn auf den Mund, die Nase, die Stirn und die Augen.
    »Ist das irgendein Ritus bei euch, den ich noch nicht kenne?«, fragte er scheu.
    Sie bettete die Wange an seine Brust und hauchte: »Ja! Er bedeutet ewige Liebe.«
    Sanft strich er über ihr Haar. »Dann ist es gut.«

 
    EPILOG
     
     
     
    Insel Gavrinis (Bretagne, Frankreich)
    29. Juli 2007
    13.05 Uhr
     
     
    Eine frische Brise wehte über den Golf von Morbihan. Sie machte die sommerliche Hitze auf der Ziegeninsel erträglicher. Das bretonische Landhaus lag weit genug von den ausgetretenen Pfaden entfernt, über die bei einem solchen Wetter die Touristen zu dem großen Tumulus pilgerten, der eines der schönsten Grabmonumente der Erde barg. Noch viel älter als die ägyptischen Pyramiden war dieser verborgene Stufenbau. Seine Entstehung reiche zweitausend Jahre weiter in die Vergangenheit zurück, behaupteten die Gelehrten. Ob hier die Wiege des alten Atlantis stand, darüber disputierten sie noch immer.
    Für die drei am Swimmingpool war diese Frage keinen Streit wert. Der eine wusste es besser, die andere vertraute seinem Urteil, und der Dritte im Bunde war noch zu klein, um sich über so etwas Gedanken zu machen. Im Moment schlummerte er, den Daumen im Mund, an Frau Silbermanns Brust. Sie selbst beschäftigte sich mit einem Artikel der Los Angeles Times. Die Zeitung war am
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