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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn
Autoren: Ralf Isau
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Jahre nach dem gregorianischen Kalender! Wie alt war der weise Führer des Silbernen Volkes damals schon gewesen, wenn allein der Bau fast ein Jahrhundert in Anspruch nahm?
    Ihre Hand strich über sein Bein hinauf zum Ansatz seiner knappen Badehose. Er seufzte genüsslich. Ihre Finger berührten die uralte Narbe, dort, wo der Oberschenkel in das Gesäß überging.
    Er drehte ihr den Oberkörper zu, hob den Kopf und lächelte sie an. »Was ist, Schatz?«
    »Ich habe nur nachgedacht.«
    »Und worüber?«
    »Über dies und das.«
    »Du bist eine sehr scharfsinnige Frau.«
    Sie schenkte ihm ein geheimnisvolles Lächeln. »Ist das die Verführung, der gleich das Kommando folgt?«
    »Wie lange schläft der Kleine noch?«
    »Er wird gleich aufwachen.«
    »Dann muss ich wohl bis heute Nacht warten.«
    Sie schob die Unterlippe vor. »Das ist ungerecht. Der Stöpsel bekommt immer gleich, was er will.«
    Herr Silbermann schwang die Beine herum und begann den Rücken des Kindes zu streicheln. Nach einer Weile fragte er: »Wärst du nach einem Jahr zurückgekehrt?«
    »Nein«, antwortete sie prompt.
    Er runzelte die Stirn.
    Sie lachte leise. »Ich habe dich ja nicht gehen lassen und hätte es auch nie, nie, nie getan.« Mit einem Mal wurde ihr Gesicht nachdenklich. »Ob jemals jemand erfahren wird, was wirklich mit dem Hauptschuldigen des Jownestown-Massakers geschehen ist?«
    Er grinste. »Du meinst, dass Flatstone und sein Henkersknecht unter einem Berg Schutt begraben liegen und ihre Knochen nun das Gedächtnis des Silbernen Volkes bewachen? Wie man hört, sollen die Wissenschaftler erstaunlich wenig Elan gezeigt haben, das Geheimnis des eingestürzten Gemäuers beim Intihuatana zu ergründen. Die Presse hat nur über den abgesplitterten Zeiger der Sonnenuhr geklagt.«
    Sie musste nun ebenfalls lächeln. »Ja, allerdings mit dieser haarsträubenden Geschichte. Der Kran einer Filmfirma soll den Sitz der Sonne angekratzt haben, als man einen Werbespot für Bier drehen wollte. Ein Kran in Machu Picchu! Etwas Blöderes ist den Behörden scheinbar nicht eingefallen.«
    »Vermutlich hat sich der CIA das ausgedacht, nachdem die sterblichen Überreste von Al Leary gefunden worden waren.«
    Sie zwirbelte nachdenklich eine Locke des an ihrer Brust schlummernden Kindes. »Stell dir nur vor, was aus Jefferson Flatstones ›Operation‹ geworden wäre, wenn er wirklich das Gedächtnis des Silbernen Volkes entdeckt und entschlüsselt hätte. Womöglich wäre es sogar zu einem dritten Weltkrieg gekommen.«
    Herr Silbermann seufzte. »Ich hoffe, es wird so schnell niemand den Schatz der Weißen Götter finden. Die Menschen sind noch nicht reif, das alte Wissen zu empfangen. Jedenfalls nicht in seiner ganzen Fülle. Wir werden ihnen gerade so viel Licht geben, wie sie ertragen können. Und vielleicht – wenn der Kleine da einmal groß ist – sind auch sie für den Fühlsinn erwachsen genug. Auf der Tonleiter der Emotionen gibt es viele Harmonien; wenn die Menschen sie mit Herz und Verstand spielen, wird ein wunderbares Konzert erklingen.« Liebevoll streichelte er über den Kopf des Kindes, das sich im Arm seiner Mutter unruhig bewegte.
    Sie blickte stirnrunzelnd zu dem Kleinen hinab. »Ich habe plötzlich einen unbändigen Hunger!«
    »Kommt uns das nicht bekannt vor?«, fragte Herr Silbermann.
    Sie streichelte ihm die Wange. Dann setzte sie sich auf und legte sich den Säugling an die Brust. Der Kleine trank, als ginge es um sein Leben. Dabei beobachtete er aus hellblauen Augen aufmerksam seine lächelnde Mutter. Sie strich ihm zärtlich über das weizenblonde Haar. Einige Zeit später hatte sich das Kind satt getrunken, und auch der Hunger seiner Mutter war plötzlich verflogen.
    Sie lächelte ihren Mann schelmisch an. »Ich glaube, Schatz, diese Unsitte hat er von dir geerbt.«

 
    ANMERKUNGEN DES AUTORS
     
     
     
    Einem Menschen den freien Willen zu rauben gehört wohl zu den infamsten Angriffen auf die persönliche Freiheit. Nun kann sich unsere Gedanken- und Gefühlswelt jedoch nicht aus sich selbst entwickeln, sie ist auf ständige Interaktion angewiesen. Fast täglich wirken solche Wechselbeziehungen auf unsere Persönlichkeit ein, und häufig profitieren wir davon: Erziehen bedeutet, einen Menschen zu formen, jemanden zu unterrichten heißt auch, ihn zu prägen, selbst Freundschaft geht in aller Regel mit einer gegenseitigen Beeinflussung einher. Leider ist nicht jede von außen angestoßene Veränderung unseres Verhaltens oder
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