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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn
Autoren: Ralf Isau
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sehr gut an das Verhör in Colonel Hoogevens Zelt, als Thomas Sose die Personalien Sarafs aufgenommen hatte. »Du sagtest einmal, dein Geschlecht stammt aus Kerne und dein Ahnherr sei Atlax vom Meer. Ist das…?« Sie deutete auf den grinsenden Schädel.
    Saraf nickte. »In diesem Tempel wohnte einst der Geist von Atlax, dem ersten und mächtigsten König von Atlantis. Als unser Reich von Kriegern aus dem Osten überrannt wurde und man unsere Pyramiden mit Erde zuschüttete, retteten meine Vorfahren das Kostbarste unseres Volkes.«
    »Sein Gedächtnis. Dann gibt es noch mehr Schädel da unten im Berg? Oder wurden sie gerade zerstört?«
    »Nein. Niemals hätten die Hüter so etwas zugelassen. Jefferson Flatstone und Feraru Madalin sind von ihrem eigenen Misstrauen getötet worden. Wären sie nur ein paar Schritte näher bei mir gewesen, hätten die Obsidianschwerter sie nicht durchbohrt.«
    Yeremi wollte sich lieber nicht ausmalen, was in den Eingeweiden von Huayna Picchu vorgefallen war. Außerdem galt es, ein anderes Rätsel zu lösen, von dem ihre Zukunft und ihr Glück abhingen. »Welche Bewandtnis hat es mit diesen Totenköpfen?«, fragte sie.
    Saraf stellte den Schädel auf seine linke Handfläche und öffnete ihn oben wie eine Pralinendose. Wegen der Dunkelheit nahm er Yeremis Hand und ließ ihre Fingerkuppen über die Innenwand der Schädeldecke streichen. Sie fühlte feine Vertiefungen, gerade so, als hätte jemand eine Inschrift in den Knochen geritzt. »Was du da spürst, ist Atlax’ Gedächtnis«, sagte Saraf.
    Jetzt endlich begriff Yeremi. »Das Gedächtnis des Silbernen Volkes! Ihr habt euer Wissen in die Innenseiten der Totenköpfe eingraviert. Wie viele von diesen ›Schädeldokumenten‹ gibt es in der geheimen Schatzkammer?«
    »Tausende! Niemand hat sie je gezählt, da ja auch die Weisheit unerschöpflich ist. Seit Anbeginn der Zeit bewahrt unser Volk sein Wissen auf diese Weise, um es an spätere Generationen weiterzugeben.«
    »Also hatte Dave Clarke doch Recht. Sein Lieblingsspruch lautete: ›Sammeln ist der Anfang der Erkenntnis.‹ Was tun wir jetzt? Man wird das eingestürzte Gebäude untersuchen und den Eingang zur Höhle finden.«
    »Wohl kaum. Dieser Ausgang ist – wie nennt ihr es doch gleich? – eine Einbahnstraße. Als ich das Haus des Intihuatana zum Einsturz brachte, wurde auch der Tunnel verschlossen. Man wird unter dem Schutt nur eine glatte Felswand finden.«
    Yeremi schüttelte ungläubig den Kopf. »Und das alles wusstest du, weil es dir überliefert wurde? Mir fällt es schwer, das zu glauben.«
    Saraf lächelte. »Ich hatte… Auch dafür gibt es bei euch doch so ein komisches Wort… Ja! Einen Spickzettel.«
    Yeremis Augenbrauen hoben sich. »Die Azofa?«
    »Nein. Das hier.« Sarafs Rechte legte sich auf die Perlenkette an seinem Hals. »Die Korallen sind nicht zufällig so unterschiedlich geformt. Es ist eine Art der Schrift, ähnlich wie die Knotenschnüre. Obwohl ich zum ersten Mal durch die Höhlen ging, wusste ich jederzeit, wohin ich mich wenden und welchen Fallen ich aus dem Weg gehen musste.«
    Yeremi nickte gewichtig. »Jetzt wird mir klar, warum du dein Schmuckstück immer wie deinen Augapfel gehütet hast.«
    »Ich hatte gehofft, dir würde noch etwas anderes aufgehen.«
    In seiner Stimme lag etwas Endgültiges, das Yeremi erschreckte. Sie geriet erneut in Unruhe. »Fängst du schon wieder damit an! Können wir nicht glücklich miteinander werden, so wie wir sind? Darf ich nicht einfach sein, wer ich bin?«
    »Doch, Jerry«, antwortete er traurig. »Gerade das ist es, was ich von dir erwarte. Vielleicht sollten wir einander Zeit geben, um uns selbst zu finden. Bis dahin ist es besser, wenn wir uns nicht sehen.« Er nahm sie in den Arm, küsste sie und sagte: »Lebe wohl! Wenn der Vollmond in einem Jahr über Vilcapampa aufgeht, werde ich wieder hier sein.«
    Yeremi war zu benommen, um sogleich darauf zu reagieren. Sie sah, wie er auf die Treppe zuging, die zur heiligen Plaza hinabführte. Erst als er die erste Stufe genommen hatte, erlangte sie die Fassung zurück. Warum machte er das? Zornig rief sie ihm hinterher: »Wenn du mich jetzt verlässt, werden wir uns niemals Wiedersehen.«
    »Die Entscheidung liegt ganz bei dir, Jerry.« Seine Antwort klang fern, weil er sich nicht einmal umdrehte und schnell zur Stadt hinabstieg.
    Der Seelenschmerz verzerrte Yeremis Gesicht, Tränen liefen über ihre Wangen. Sie konnte kaum erkennen, wie Sarafs Kopf ihrem Blickfeld
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