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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn
Autoren: Ralf Isau
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»trage eine Maske«. Deshalb musste Sarafs Ratsbruder sterben, daran hegte sie nicht den geringsten Zweifel. Ich hätte auf Famas Schwester hören und die Warnsignale richtig deuten sollen, warf sich Yeremi vor. Wäre so nicht wenigstens der Untergang des Silbernen Volkes zu verhindern gewesen? Rasch verscheuchte sie diesen zersetzenden Gedanken. Es liegt im Wesen des Irrtums, dass man ihn erst im Augenblick des Scheiterns erkennt. Die Vorstellung, einmal in Leary so etwas wie romantische Gefühle geweckt zu haben, erschien ihr in diesem Moment dennoch aberwitzig. Er wollte sie nur noch töten, aber – auch das glaubte sie zu fühlen – er war zu feige, sie aus nächster Nähe zu erschießen. Learys herablassende Stimme beendete vorerst ihre Betrachtungen.
    »Wenn man deine Leiche hier findet, fangen die Behörden an zu schnüffeln. Der Hinweis auf Ugranfir ist Gold wert, Jerry: Dir wird es genauso ergehen wie ihm. Wenn du über dem Dschungel aus dem Helikopter fällst, bleibt mir genügend Zeit, um meine große Vision zu verwirklichen. Sollte man je deine Knochen finden und identifizieren, wird die Welt längst eine andere sein.«
    Mechanisch legte er Hebel um, drückte Knöpfe, ließ den Motor anspringen und auf Touren kommen…
    Yeremi spürte, wie ernst er es meinte. Als kleines Mädchen hatte sie ihre Mutter in Jonestown zur Flucht gedrängt. Es müsse sofort geschehen, ein anderes Mal sei es zu spät, hatte sie gefleht. Sie erinnerte sich, was ihr damals eine solche Furcht eingejagt hatte: Sie hörte den Klang des Todes. Und in diesem Augenblick war es wieder so.
    Der Helikopter stieg senkrecht in die Luft, neigte die Nase und nahm Fahrt auf. Yeremi musste immer mehr Kraft aufwenden, um nicht in Panik zu geraten. Sie blickte zur hellen Scheibe des Mondes empor. Silber steht für die kühle Überlegung des Verstandes, hatte Saraf gesagt. Wie sollte sie in einer solchen Situation ruhig bleiben? Was konnte sie tun, um Leary die Mordlust auszutreiben? Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Hilflos blickte sie nach unten. Der Hubschrauber flog direkt auf den Jungen Gipfel zu. Leary schaltete den Suchscheinwerfer ein. Yeremi sah in sein verbissenes Gesicht. Wollte er ein letztes Mal nach seinem Boss Ausschau halten? Oder begann er gleich hier nach einer geeigneten »Abwurfstelle« zu suchen?
    Schon wollte sie ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorne wenden, als ihr Blick den höchsten Punkt der Ruinenstadt streifte. Auf dem abgeflachten Hügel ragten einige halb zerfallene Mauern auf, die Überreste mehrerer kleiner Häuser, die einmal rituellen Zwecken gedient hatten. Beherrscht wurde das kleine Plateau jedoch von dem pyramidenförmigen Steinblock Intihuatana, der fahl im Licht des Mondes schimmerte. Was hatte Saraf zum Abschied gesagt? Wir sehen uns wieder am Sitz der Sonne…
    Yeremi zuckte zusammen, eine Folge ihrer überstrapazierten Nerven. Plötzlich stieg Hoffnung in ihr auf. Saraf musste von Anfang an einen Plan gehabt haben, und der hing mit dem Sonnenthron zusammen…
    »Da!«, rief sie und deutete an Leary vorbei aus dem Cockpitfenster. Sie hatte bei dem höchsten der Gebäude eine Bewegung gesehen. Die kunstvoll aufeinander gefügten Steine zitterten…
    Jetzt reagierte auch Leary, indem er das Heck des Helikopters herumschwenken ließ. Er konnte Flatstone nicht im Stich lassen, sollte dieser einen anderen Weg aus den Höhlen gefunden haben. Am nächsten Morgen würden die Fremdenführer und Touristen zurückkehren und die »Höhlenforscher« entdecken, und danach begänne eine gnadenlose Jagd auf den illoyalen Psychologen. Leary steckte in einer Zwickmühle.
    Er lenkte den Hubschrauber an die Zwergenpyramide heran. Als er dicht über der Hügelkuppe schwebte, stürzte plötzlich das am höchsten aufragende Gemäuer zusammen.
    »Was war das?«, stieß Leary hervor.
    Yeremi starrte gebannt auf die Staubwolke, die im Scheinwerferkegel herumwirbelte. »Jedenfalls kein Erdbeben«, murmelte sie. Ihre Stimme ging im Motorenlärm unter.
    Der Rotor beförderte den Staub schnell aus dem Weg. Im grellen Licht erschien die steinerne Statue eines Mannes – so jedenfalls sah die graue Figur aus, die über den Trümmern des zusammengebrochenen Gemäuers aufragte: wie ein merkwürdiges Standbild. Ein runder Gegenstand klemmte unter dem Arm des völlig eingestaubten Mannes. Er sah zum Hubschrauber hinauf. Dieser schwebte nun fast auf gleicher Höhe mit dem Intihuatana. Einen Moment lang glaubte Yeremi, sie sehe Rauch von der
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