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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn
Autoren: Ralf Isau
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hinaufschieben. Leary sah, wie sie humpelte, er hörte ihr Stöhnen, aber es kümmerte ihn nicht.
    Nach einer Zeit, die Yeremi wie eine Ewigkeit vorkam, erreichten sie endlich den nordwestlichen Ausläufer des Zentralplatzes. An Stelle ihres Fußes spürte sie nur noch ein qualvolles Pochen. Rechts von ihr ragte der Hügel mit dem Thron der Sonne auf. Das Intihuatana hob sich dunkel von dem Sternenhimmel ab. Brutal stieß Leary sie weiter.
    »Was hast du vor?«, keuchte Yeremi.
    »Muss ich mich wirklich wiederholen?«, erwiderte er und lachte euphorisch. Man hätte glauben können, er habe einen Rausch. Nie zuvor hatte Yeremi dieses intensive Gefühl an ihm bemerkt, diese glühende Wildheit, die sich aus seiner wollüstigen Gier speiste.
    »Ehe ich dir das gebe, was du Liebe nennst, teile ich lieber Ugranfirs Schicksal und lasse mich von dir umbringen«, fauchte sie ihn an und spürte mit Befriedigung, wie sie die Kontrolle über ihre Gefühle zurückgewann.
    Learys Reaktion war für sie zunächst nur als erbärmliche Dissonanz wahrzunehmen. Sie hörte eine Woge der Enttäuschung durch ihn hindurchrollen. Er musste ihre Standhaftigkeit spüren und ahnen, dass er ihren Willen niemals wieder würde brechen können. Aber dann erschrak Yeremi, denn sie merkte, wie der Zorn von Leary Besitz ergriff – ein Paukenwirbel, der immer stärker anschwoll –, und der daraus aufsteigende Wahnsinn war noch schlimmer als die besiegte Lüsternheit.
    »Du willst Ugranfir folgen?«, schrie Leary mit schriller Stimme. »Meinetwegen, das kannst du haben! Denke nicht, du wärst mehr wert als dieser wankelmütige Wilde, der sich im letzten Moment zum Retter seines Volkes aufschwingen und mir die Quipus vorenthalten wollte.«
    Es waren nur noch wenige Schritte bis zum Hubschrauber. Jetzt begann Yeremi zu begreifen, was in Learys Kopf vorging. »Du willst mich doch nicht…?«
    Flatstones Erfüllungsgehilfe lachte irre. »Warum nicht? Du hattest genug Chancen zu kapitulieren. Im Dschungel warst du schon besiegt. Als ich mir Ugranfir vom Halse schaffte, bist auch du zum ersten Mal gestürzt. Ich hatte dir faktisch die Leitung des Expeditionsteams abgenommen. Aber du musstest dich ja unbedingt wieder aufrappeln, hast plötzlich diesen Silbermann aus dem Hut gezaubert…«
    »Du bist tatsächlich Ugranfirs Mörder!«, entfuhr es Yeremi. Obwohl Leary ihren Verdacht nur bestätigt hatte, war sie von seinem Geständnis trotzdem erschüttert.
    Der Psychologe sah sich ein weiteres Mal ausgetrickst. Neben der Einstiegsluke des Helikopters verharrend, geiferte er: »Was denkst du denn? Meinst du, ich lasse mir von einem Hinterwäldler die Früchte meiner Arbeit verhageln? Und dir wird das ebenso wenig gelingen. Iceberg weiß meine Qualitäten zu schätzen. Und wenn ich erst Flatstones Nachfolge angetreten habe, werden wir unsere Pläne Wirklichkeit werden lassen – in wenigen Tagen schon.«
    »Etwa mit euren stümperhaften Methoden, die immer wieder in Katastrophen endeten?«, erwiderte Yeremi trotzig.
    »Wir haben schon mehr erreicht, als du denkst. Und nun steig ein.« Er riss die Luke des Hubschraubers auf.
    Mit bangem Blick sah sie in die Maschine.
    »Los!«, brüllte er. »Oder willst du ausprobieren, ob ich nicht doch noch eine Kugel für dich aufgespart habe?«
    Grimmig blickte Yeremi auf den Revolver. Man glaubt oft ohnmächtig zu sein, ist aber so gut wie nie wehrlos. Nein, dachte sie, solange ich lebe, kann ich auch kämpfen. Mit dem gesunden Fuß voran kletterte sie ins Cockpit. Als sie die Luke zuziehen wollte, hielt Leary sie fest.
    »Heute fliegen wir zur Abwechslung mal mit offener Tür«, sagte er grinsend.
    Yeremi blitzte ihn zornig an. Er zielte immer noch mit dem Revolver auf sie. Sie ließ sich in ihren Sitz sinken und schnallte sich an.
    Leary lief um den Helikopter herum und nahm den Platz neben ihr ein.
    Die Gedanken schossen wie Blitze durch Yeremis Kopf. Was konnte sie tun, um diesen Irrsinnigen aufzuhalten? Vor den Höhlen des Orion hatte Leary sich einmal als Hermes bezeichnet. Der Götterbote und Gott der Schelme und Diebe war auch ein Seelenführer – er geleitete die Seelen der Verstorbenen zum Fährmann Charon, der sie dann über den Grenzfluss des Totenreiches setzte und sie in den Hades brachte. Nun zeigte Leary sein wahres Gesicht – das des kaltblütigen Mörders. Ugranfir musste ihm auf die Schliche gekommen sein, denn Adma hatte seine Bedenken offen ausgesprochen: Ugranfir behaupte, jemand in Yeremis Gruppe
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