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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn
Autoren: Ralf Isau
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Sekundenlang flog das Licht wie eine Sternschnuppe durch die Nacht. Dann folgte ein Klappern, und es wurde dunkel.
    Spätestens jetzt wurde Leary klar, was da in seinem Rücken vor sich gegangen war, während er gefunkt und seinen schlimmen Ahnungen nachgehangen hatte. Er zielte in die Richtung, in der er die Fliehende vermutete, und feuerte drei Schüsse ab.
    Yeremi hatte die eigene Taschenlampe wohlweislich ausgeschaltet. Diese Voraussicht rettete ihr vermutlich das Leben. Leary war ein ausgebildeter Kämpfer und hätte sie andernfalls sicher nicht verfehlt. Die Wolken waren weitergezogen, und der Vollmond hing wie eine riesige Laterne über der fantastischen Landschaft. Sein silbriger Schein musste zur Orientierung reichen.
    Die Ruinen der Inkastadt breiteten sich wie ein geheimnisvolles Orakel zu ihren Füßen aus. Doch Yeremi hatte weder Muße noch war sie in der Stimmung, die Schönheit dieses geschichtsträchtigen Ortes zu bewundern. Hinter ihr befand sich ein wütender Mordbube, und vor ihrem inneren Auge stand das Bild Saraf Argyrs. Sie hatte nie wirklich angenommen, dass er den Verbrechern das Gedächtnis seines Volkes ausliefern würde. Das Donnern des Berges konnte nur eines bedeuten: Er musste irgendeinen Schutzmechanismus ausgelöst, damit die Anlagen zum Einsturz gebracht und auf diese Weise Flatstone wie auch Madalin mit sich in den Tod gerissen haben.
    So schnell es nur ging, stolperte Yeremi den Jungen Gipfel hinab, einen Schleier aus Tränen vor den Augen. Mehrmals überlegte sie, einfach aufzugeben. Wenn Saraf nicht mehr lebte, wozu sollte sie sich dann noch weiter quälen? An besonders gefährlichen Stellen schaltete sie sogar ihre Taschenlampe ein, aber als hinter ihr Learys Waffe aufblitzte, siegte doch ihr Überlebenswille, und sie vertraute sich erneut dem Mondlicht an.
    Wohlbehalten erreichte sie die Terrassen an der Flanke des Huayna Picchu und lief nun schneller der Stadt entgegen. Hinter sich hörte sie noch immer die Schritte ihres hartnäckigen Verfolgers, glaubte sogar, seinen Zorn zu fühlen. Sie wusste nicht genau, wie es weitergehen sollte, wenn sie erst die Ruinen erreicht hätte. Immerhin verfügte sie hier über genaue Ortskenntnisse und rechnete sich einen Vorteil aus.
    Als Yeremi den bewaldeten Streifen erreichte, hörte sie Learys Husten. Er war kein Marathonläufer. Wie oft konnte er seinen Revolver abfeuern, ohne nachzuladen? Hatte er schon sechsmal abgedrückt? Durfte sie es wagen, ihre Lampe erneut zu benutzen? Unter den Bäumen war es finster. Nur hier und da warf der Mond silberne Speere auf den Boden, so wie damals, als sie im Dschungel an einem Baum lehnte und Saraf unerwartet…
    Plötzlich spürte sie ein starkes Ziehen in ihrem linken Fuß, sie stürzte zu Boden, und es wurde dunkel. Im Fallen war ihr die Taschenlampe aus der Hand gerutscht und irgendwohin verschwunden. Neue Tränen schossen Yeremi in die Augen, diesmal vor Schmerz. Sie musste ziemlich unglücklich auf eine Wurzel oder einen Stein getreten und dabei umgeknickt sein. Mit beiden Händen hielt sie ihr Fußgelenk und kämpfte gegen die aufwallende Übelkeit an. Nicht sitzen bleiben!, verlangte ihre Vernunft, aber der Fuß wollte sich dieser Weisung nicht fügen.
    Und dann war mit einem Mal Leary über ihr. Ein helles Licht blendete sie – er musste die Taschenlampe gefunden haben. Sein Revolver zielte direkt auf ihre Stirn.
    »Das hättest du nicht tun sollen«, sagte er. Seine Stimme klang kühl und bedrohlich.
    Yeremi kniff die Augen zusammen, weil sie sicher war, was nun folgen musste. Er würde den Abzug betätigen und…
    Klick!
    Der Schlagbolzen hatte eine leere Patronenhülse getroffen. Yeremi glaubte wie Wachs in einer Flamme schmelzen zu müssen. Alle Kraft war mit einem Mal aus ihr entwichen. Sie wappnete sich für den zweiten, finalen Schuss, doch stattdessen hörte sie Learys ätzende Stimme.
    »Das ist mir noch nie passiert.«
    Yeremi öffnete die Augen. Im nächsten Moment fühlte sie seinen harten Griff an ihrem Oberarm. Mit einer Kraft, die ihr nicht fremd war, riss er sie auf die Füße. Vor Schmerz jaulte sie auf.
    »Hab dich nicht so, mein Schatz«, säuselte er ihr ins Ohr. »Wir suchen uns jetzt ein nettes Plätzchen, wo wir unsere alte Liebe auffrischen können. Mein Boss wird wohl nichts dagegen haben.« Er lachte auf eine Weise, die Yeremi erschauern ließ.
    Der seelische und körperliche Schmerz hatte ihren Widerstand gelähmt. Sie ließ sich durch den Wald zur Stadt
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