Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
Lebenswaage. Als der kleine Propeller die Pyramide touchierte, zuckte Yeremi zusammen und riss die Arme hoch. Steinsplitter sausten wie tödliche Geschosse über sie und Saraf hinweg.
    Beide dachten zunächst, die Kollision hätte dem Helikopter keinen größeren Schaden zugefügt. Auf dem Bauch liegend, sahen sie, wie er regelrecht in die Höhe schoss. Aber dann hörten sie ein hässliches metallisches Kreischen, und mit einem Mal fiel ein Funkenregen vom Heck der Flugmaschine herab. Nur einen Wimpernschlag später wurde der von der Unwucht aus dem Gleichgewicht gebrachte Heckrotor regelrecht zerrissen. Der Helikopter driftete brennend nach Westen ab und begann sich immer schneller um seine eigene Achse zu drehen. Gleichzeitig stürzte er in die Tiefe.
    Yeremi und Saraf eilten, so schnell es ihre malträtierten Körper erlaubten, zur äußersten Kante des Intihuatana-Plateaus. Dort hielten sie einander fest und spähten ins Tal. Sie konnten den Helikopter nicht mehr sehen, aber noch immer war sein Jaulen und Kreischen zu hören. Kurz darauf drang der Laut einer gewaltigen Explosion zu ihnen herauf. Die umliegenden Berge leuchteten einen Moment auf, stumme, ganz in grün gekleidete Zeugen. Schnell wurden die Flammen kleiner; in der feuchten Umgebung würde das Feuer bald ganz erlöschen.
    Zitternd schmiegte sich Yeremi an Sarafs Körper. Sie spürte seine Hand über ihr Haar streichen, eine Berührung, die ihr neue Kraft verlieh. So standen sie eine ganze Weile auf dem höchsten Punkt der Wolkenstadt, und der Vollmond tauchte sie in sein silbriges Licht.
    Nach einer Weile sagte Saraf leise: »Ich hatte schon befürchtet, meinen kostbarsten Schatz für immer zu verlieren. Es war höchste Zeit.«
    Yeremi reckte ihm das Kinn entgegen. Sie war sich nicht ganz sicher, wovon er sprach.
    Er lächelte, und sein Ringfinger scheuchte eine aufmüpfige Haarsträhne aus ihrem Gesicht. »Wir Silbernen benutzen den Fühlsinn so wie ein Chor seine Stimme: in der Gruppe. Selbst meine Kraft ist begrenzt, wenn sich jemand zu wehren weiß.«
    »Wie Al Leary, meinst du?«
    Er nickte. »Ja. Es war höchste Zeit für dich, mir zu Hilfe zu kommen.«
    Yeremi schüttelte den Kopf. »Rede keinen Unsinn, Saraf! Ich habe ihm auf die Nase gehauen. Vielleicht gibt’s da bei mir eine gewisse Begabung, aber…«
    Saraf legte ihr den Zeigefinger auf die Lippen. »Schsch!«
    Yeremi sah ihn fragend an.
    »Jeder Mensch besitzt von Natur aus die Einfühlung – bei dem einen ist sie etwas stärker, beim anderen eher schwach entwickelt. Aber nur wenige machen von ihrer Gabe Gebrauch. Wer dies tun will, muss zuallererst geben, anstatt nur nehmen zu wollen. Das macht ihn zu einem besonderen Menschen. Schon als wir uns das erste Mal begegnet sind und du so voller Zweifel und Ängste stecktest, konnte ich fühlen, was für ein außergewöhnlicher Mensch du bist. Die Einfühlung schlummerte in dir, stark wie ein schlafender Jaguar, aber auch ebenso gefährlich, wenn du nicht auf sie Acht gibst – eben hast du es bewiesen. Doch bei dir wird die Gabe in den richtigen Händen sein. Jetzt kann der Silberne Mann endlich seine seit langem verheißene Reise antreten.«
    Yeremi befreite sich aus Sarafs Armen. »Du willst mich verlassen?«
    Selbst im Mondlicht konnte sie den Schmerz in seinen hellen Augen sehen. »Es ist keine Frage des Wollens, Jerry. Ich liebe dich, aber…«
    »Aber was?«, stieß sie hervor. Ihre Stimme zitterte, und Tränen traten in ihre Augen.
    »Mir wurde eine Bestimmung in die Wiege gelegt, Jerry. Du weißt es. Wir dürfen einander nicht den Weg versperren.«
    Sie blinzelte verwirrt. »Was… Wovon redest du überhaupt?«
    »Als du in der brummenden Maschine gesessen hast, ist dir zum ersten Mal bewusst geworden, wer du wirklich bist. Aber jetzt verdrängst du das Wissen um deine wahre Natur schon wieder. Solange du dich ihr nicht öffnest, gibt es keinen gemeinsamen Weg für uns.«
    »Was soll ich verdrängen?«, fragte sie verzweifelt. Die Angst, den Menschen zu verlieren, den sie am meisten liebte, verhinderte jeden klaren Gedanken. Und Sarafs Antwort verwirrte sie noch mehr.
    »Das musst du ganz allein herausfinden, Jerry.«
    Erregt lief sie zum Intihuatana und deutete auf den dort abgelegten Schädel. »Warum hast du diesen Totenkopf mitgebracht?«
    Saraf war ihr gefolgt, bückte sich und hob den Schädel auf. »Das ist mein Urvater«, antwortete er feierlich. »Er gründete einst ein mächtiges Reich im Westen.«
    Yeremi erinnerte sich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher