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Südbalkon

Südbalkon

Titel: Südbalkon
Autoren: Isabella Straub
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1
    Wenn Raoul gut gelaunt ist, spielen wir Wo ich niemals leben möchte . Wenn er schlecht gelaunt ist, aber immer noch gut genug, um sich aufheitern zu lassen, spielen wir Wo ich niemals sterben möchte . Wenn ich merke, dass die Stimmung kippt, lasse ich ihn gewinnen. Ich beiße mir auf die Unterlippe und tue so, als würde ich nachdenken, obwohl ich tausend Orte nennen könnte, an denen ich nie und nimmer sterben möchte. In der Sakristei des Stephansdoms. In der Zielgeraden am Nürburgring. Auf einer Bank im Garten der Magenbuch-Klinik.
    Wenn Raoul merkt, dass er gewinnt, bessert sich seine Laune schlagartig. Er reibt sich die Hände, manchmal kneift er mich in die Wange. Das kann ich nicht leiden.
    »Feiern wir?«
    »Schnell«, sage ich. »Ich muss los.«
    Er öffnet den Gürtel seiner Jeans, lässt mich dabei nicht aus den Augen. Seine Beine sind weiß und dünn wie Leuchtstoffröhren.
    Ich wärme meine Mundhöhle mit Tee vor. Hagebutte.
    Leicht hätte ich die Niederlage verhindern können, jetzt ist es zu spät. Raoul hält meinen Hinterkopf fest, hin und wieder knetet er meine Ohrläppchen.
    Ich versuche, ihm den Sieg zu gönnen, denn den Opferbereiten gehört das Himmelreich. Das ist nicht O-Ton Bibel, das hat Frau Weinzierl immer gesagt. Auf dem Deckel ihres Förster-Pianinos zitterten drei Rosenkränze aus Holzperlen, wennich fortissimo spielte. Und ich spielte oft fortissimo. »Lauter, mein Kind, sonst kann dich der liebe Gott nicht hören«, rief Frau Weinzierl, und ich schlug in die Tasten, obwohl mir Finger und Ohren schmerzten. An der Wand der Klavierkammer, einem winzigen Zimmer im Karl-Marx-Hof, hing ein einziges Foto. Es zeigte Frau Weinzierl Aug in Aug mit dem Papst. Frau Weinzierl kniet vor dem Papst, so wie ich vor Raoul. Bereit, beinahe alles zu tun. Das Foto fror den Moment ein, als der Papst seine Hand hob. Ich überlegte oft, was dann geschah. Wahrscheinlich legte er seine Hand mit päpstlicher Gönnermiene auf ihren Klavierlehrerinnenarm. Vielleicht aber zwickte er sie auch in die Wange. Wer weiß, was so ein Papst ausheckt, wenn sich die Audienzen in die Länge ziehen.
    Der Papst ist längst tot und seliggesprochen. Raoul ist lebendig und warm. Er zieht mich zu sich heran, bis ich würgen muss. Ich öffne die Augen, Frau Weinzierl verschwindet und gibt den Blick frei auf Raouls Unterkörper. Einige Pickel rund um seinen Nabel sind entzündet, winzige Vulkane kurz vor der Eruption. Am Abend werde ich Champignonschnitzel zubereiten. Das Fleisch werde ich bei Samson kaufen, Ecke Taubenmarkt und Sariastraße. Samson hat das günstigste Schweinefleisch im Bezirk. Er klopft die Schnitzel so lange, bis sie keinen Ton mehr von sich geben.
    Raoul ächzt: »Ruth, Ruth, Ruth«, seine Stimme kippt, ein Flehen, ein Crescendo in a-Moll, so als ob ich weit weg wäre und schnell zu ihm laufen müsste, dabei bin ich ohnehin schon da, näher geht’s nicht.
    Ich schiele auf die Uhr. Dreiviertel zehn. Höchste Zeit. Ich packe Raouls Hinterbacken und grabe ihm die Fingernägel ins Fleisch. Komm schon, komm schon. Meine Knie schmerzen.Raouls Körper spannt sich wie ein Bogen. Er seufzt, als hätte er eine schlechte Nachricht erhalten.
    »Fertig«, sagt er.
    Im Bad nehme ich einen kräftigen Schluck Chlorhexamed. Es brennt auf der Zunge und im Gaumen. Ich spüle aus, öffne meinen Mund, um das Zahnfleisch zu betrachten. Alles voller weicher roter Krater. Der Mund ist ein überschätzter Körperteil. Solange die Lippen geschlossen sind, hält sich das Elend in Grenzen, der Blick in den Schlund aber offenbart die ganze Entsetzlichkeit der Kreatur. Nichts anderes als ein Verdauungsschlauch, aufgepeppt mit ein paar Deko-Elementen.
    Unser Bad ist winzig und fensterlos. Ausgestattet mit einer Wanne, in der Raoul kauert wie ein zu groß geratener Säugling in einem Bottich. Gemeinsames Baden erfordert artistische Zusatzqualifikationen. Aus ästhetischen Gründen glimmt hier lediglich eine 20-Watt-Birne. Ein gnädiges Licht, das auf die Tiegel und Wässerchen fällt, die auf dem Regal über dem Waschbecken stehen. Das meiste davon gehört Raoul, ich mache mir nicht viel aus Kosmetika.
    Ein Schritt, und ich stehe an der Wand. Ich lehne mich vor, meine Stirn berührt die kalten Fliesen. Ocker metallic. Auch ein Ort, an dem ich weder leben noch sterben möchte. Nicht hier, im zwölften Stock des Bruno-Kreisky-Hochhauses in der Przewalskistraße. 56 Quadratmeter, immerhin Westbalkon, Laminat, Raufasertapete.
    Um ein
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