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Südbalkon

Südbalkon

Titel: Südbalkon
Autoren: Isabella Straub
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Strickjacke.
    »Ich muss zur Gesellschaft «, sage ich.
    Raoul knipst bereits den Computer an und versteckt sich hinter dem Bildschirm. Ich weiß nicht, was er den ganzen Tag dort treibt, allzu produktiv scheint er nicht zu sein, manchmal höre ich ihn fluchen und mit dem Fuß gegen das Tischbein treten. Raoul hat Visitenkarten drucken lassen, darauf steht LSD – Litzka Softwaredesign und unsere Adresse, Przewalskistraße 54, Tür 22, sonst nichts, keine E-Mail-Adresse, keine Telefonnummer. Ich möchte nicht, dass jemand anruft, sagt Raoul, und ich frage mich, weshalb er die Visitenkarten überhaupt drucken ließ, denn bis jetzt kam doch auch niemand zu Besuch. Ich vermute, dass Softwaredesigner eine Schönfärberei ist, so wie Parkettkosmetikerin oder Regalbetreuer. Wennmich jemand befragt, sage ich, dass Raoul Programmierer ist. Das klingt, als hätte er alles im Griff.
    Ich trete hinaus auf den Balkon. Es ist Mariä Himmelfahrt, aber zu kalt für Mitte August. Ich fröstle. Unser Balkon ist halb so groß wie ein Ehebett und aus Beton. Ich beuge mich über die Brüstung. Für Raoul mag es so aussehen, als beobachte ich den Verkehr auf der Przewalskistraße, die Marotte einer Arbeitslosen. In Wahrheit beuge ich mich über die Brüstung, um in die Wohnung der Familie Wessely hineinzusehen, wo es Eheunglück in allen Facetten zu betrachten gibt. Das ist ein Spiel, das ich alleine spiele und garantiert immer gewinne.
    Die Wesselys wohnen im elften Stock des Schütte-Lihotzky-Hochhauses, das sich vis-à-vis des Bruno-Kreisky-Hochhauses in den Himmel schraubt. Der reinste Unglücks-Container. Die Wohnung der Wesselys ist mit dunklen Kassettendecken getäfelt, ein Bunker, in den niemals die Sonne scheint. Es ist mir ein Rätsel, wie man sich für so eine Wohnung entscheiden kann. Die Wesselys scheinen ihre Wahl mittlerweile selbst bitter bereut zu haben. Judith Wessely trägt ihre Augenringe wie eine Auszeichnung für besondere Duldsamkeit. Moritz schlafe nicht, keine Nacht länger als eine Stunde am Stück, sagt sie. Moritz sei jetzt eineinhalb, langsam könne er mal kapieren, dass man in der Nacht schläft, sagt Phil Wessely, und Judith sagt: »Kapier’ doch endlich, dass es an der Wohnung liegt.«
    Vergangenen Freitag beobachtete ich um zweiundzwanzig Uhr vierundzwanzig eine gespenstische Szene, die ebenso schnell vorüber war, wie sie begonnen hatte: Phil Wessely öffnete das Fenster, griff Moritz beherzt unter die Arme und hielt ihn über die Brüstung des französischen Fensters, so wie es Michael Jackson mit seinem jüngsten Sohn gemacht hatte.Moritz trug einen blauen Schlafoverall und war so verdutzt, dass er nur sein Gesicht verzog, aber nicht weinte. Durch die Przewalskistraße donnerte der Verkehr.
    Wirf ihn rüber, wollte ich am liebsten rufen, gebt ihn mir, wenn ihr nicht wollt, und als Phil Wessely den Kopf hob, trafen sich unsere Blicke.

2
    Die Gesellschaft für Wiedereingliederung liegt in der Lisztstraße, Ecke Palffygasse. Sie unterstützt arbeitslose Frauen, die älter sind als fünfunddreißig und kinderlos – die ihren gesellschaftlichen Auftrag also in dreifacher Hinsicht verfehlt haben. Finanziert wird die Anstalt, wie Raoul sie nennt, nicht vom Staat, sondern von Industriellen mit sozialem Reflux. Mir ist alles recht, solange sie zahlen.
    Ich mag das Wort »Wiedereingliederung« , weil es suggeriert, dass man in der Vergangenheit bereits einmal eingegliedert war. Was mich betrifft, bin ich mir da nicht so sicher. Ein abgebrochenes Medizinstudium und ein Langzeitpraktikum in einer Todesanzeigenredaktion – das ist alles, was ich an Eingliederungsbemühungen vorweisen kann.
    Das Langzeitpraktikum bestand darin, an einem Schalter zu sitzen und die Daten aufzunehmen: geboren, Beruf, Familienstand, gestorben, plötzlich, unerwartet, aus dem Leben gerissen, nach langer Krankheit, nach langer schwerer Krankheit, nach kurzer schwerer Krankheit, nach tapfer ertragener langer Krankheit, nach tapfer ertragener schwerer Krankheit, nach schwerer Krankheit und voller Zuversicht, die Augen für immer geschlossen, die fleißigen Hände ruh’n. Heimgekehrt zum Schöpfer, heimgekehrt zum Vater, heimgekehrt zum Herrn, ins Licht gegangen, den irdischen Weg abgeschlossen, beendet, finito. In unseren Herzen lebst du weiter und weiter und weiter. Die paar Semester Medizin nützten nichts, um zuverstehen, woran all diese Menschen zugrunde gegangen waren.
    Seit acht Monaten muss ich mich zweimal die Woche in der
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