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Südbalkon

Südbalkon

Titel: Südbalkon
Autoren: Isabella Straub
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geben.
    »Die Pollak ist gestorben, wusstest du das«, sage ich.
    Frau Professor Pollak war die einzige Lehrerin, die wir alle vorbehaltlos liebten, ein Ausbund an Geduld und Mitgefühl. Dass sie tot sein soll, ist reine Erfindung. Ich habe nie wieder etwas von Frau Professor Pollak gehört, wahrscheinlich genießt sie ihre Rente auf den Cayman Islands mit jeder Menge Eingeborenensex und Mango-Limetten-Cocktails.
    Linda aber glaubt mir. Sie verzieht ihr Gesicht, tritt einen Schritt zurück und hält sich erschrocken ein weißes Longshirt vor den Mund.
    »Was. Wie –«
    »Ein Bergunfall«, sage ich düster. »In der Schweiz.«
    »Wie schrecklich«, flüstert Linda. Sie sieht tatsächlich entsetzt aus, ihre Traurigkeit steckt mich an, und ich spüre, wie sich meine Augen mit Tränen füllen, beinahe glaube ich bereits meine eigenen Lügen.
    »Sie hat das Gipfelkreuz noch erreicht, beim Abstieg ist sie in eine Felsspalte gefallen«, sage ich. »Angeblich hat sie dabei noch die Namen einiger Schüler gerufen«, sage ich und weiß gleichzeitig, dass ich den Bogen überspanne.
    Lindas Stimme zittert. »Welche Namen?«, flüstert sie.
    Ich rufe im Geist die Namen unserer Mitschüler auf. Kloiber, Magomeschnig, Sammer, Weihs, Perlinger. Wenn, dann müssen es kurze Namen sein, denn so tief kann eine Gletscherspalte nicht sein, nicht einmal in der Schweiz.
    »Weihs und Sammer«, sage ich. »Der Bergkamerad will aber noch einen weiteren Namen gehört haben. ›Wegro-‹, soll sie gerufen haben. ›Wegro-‹, und dann nichts mehr.«
    »Oh mein Gott, sie hat nach mir gerufen«, flüstert Linda. »Nach mir.«
    Ihr Gesicht ist verzerrt. Ich nicke und seufze. Plötzlich steht die Verkäuferin neben uns und nimmt Linda das Shirt aus der Hand.
    »Sehen Sie, was Sie gemacht haben«, schimpft sie. »Überall Lippenstift! Das müssen Sie jetzt bezahlen.«
    Linda starrt die Verkäuferin mit offenem Mund an.
    »Das wird schon«, sage ich und tätschle Lindas Arm. »Nestlé ruft, ich muss weiter.«
    Ich verlasse die Boutique, ohne zu grüßen.

3
    Die Gesellschaft für W. befindet sich im Erdgeschoß eines noblen Gründerzeithauses. An der Hausmauer Schilder von Anwaltskanzleien, Immobilienbüros und Ärzten. Höre ich im Hausflur Schritte, steige ich mit geschäftiger Miene hinauf in den ersten Stock. Ich warte so lange vor der mächtigen Holztür des Anwalts Dr. Mörbisch, bis die Schritte verklungen sind. Ich stehe gern vor der Tür des Anwalts, dort riecht es nach Lederaktenkoffer und Holzpolitur. Mittlerweile bin ich so oft davorgestanden, dass ich es als mein angestammtes Recht ansehe, dort zu warten, bis alle anderen das Stiegenhaus verlassen haben. Es muss keiner wissen, dass nicht die Anwaltskanzlei mein Ziel ist, sondern das Zimmer A084, in dem Herr Othmar residiert.
    Vor der Tür des Herrn Othmar riecht es nach Lucky Strike und Angstschweiß. Damit ich später nicht mehr hinzuschauen bräuchte, prägte ich mir beim ersten Besuch das Zimmer genau ein: die grüne Resopal-Schreibtischplatte mit den abgeschlagenen Kanten. Der Aktenschrank, schwarz mit verchromten Griffen. Der Kleiderständer, der aussieht wie das Röntgenbild eines Baums. Das Foto im silbernen Rahmen, von dem man nur die Rückseite mit dem Preisschild sehen kann. Interio, 12,90 Euro. Diese erschreckende Ordnung, die nach endgültigem Erwachsensein riecht.
    »Ich habe schon auf Sie gewartet, Fräulein Ruth Barbara«, sagt Herr Othmar. Das sagt er jedes Mal, wenn ich sein Bürobetrete. Selbst wenn ich auf die Minute pünktlich bin. Selbst wenn ich vor der Zeit da bin. Eine Zermürbungstaktik. Oder eine dumme Angewohnheit, mit der er langsam verschmolzen ist, bis man nicht mehr sagen kann, wo die Angewohnheit endet und Herr Othmar anfängt.
    Herr Othmar ist der einzige, der »Ruth Barbara« zu mir sagt. Widerlich. Ruth reicht. Kurz und hart, ohne den Weichmacher »a« am Ende.
    Dieses »a« macht alles zunichte: Es lässt die Brüste wachsen und den Hintern prall werden. »Ruth« hat mich hingegen immer vor ausufernder Verweiblichung bewahrt. Das ist es wahrscheinlich auch, was Raoul an mir mochte: dass er keinerlei Anzeichen von Gefallsucht entdecken konnte. Ich bemühe mich nicht, mehr aus mir zu machen. Was vorhanden ist, muss reichen.
    Herr Othmar ist da anderer Meinung. »Seien Sie dankbar, dass Sie den Namen einer Heiligen tragen«, sagt er, und ich frage mich, was er mir damit sagen will. Ich habe die Legende von der Heiligen Barbara nachgeschlagen und war drei
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