Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum
Autoren: Jane Urquhart
Vom Netzwerk:
nach Nirgendwo: die radikalste, endgültigste Lossagung.

    Wenn ich im Haus umhergehe, komme ich oft an dem Rollsekretär vorbei, der meinem Onkel gehört hat und vor ihm seinem Vater und seinem Großvater, und ich weiß, dass die Bücher, die er in diesem letzten Sommer zu führen versucht hat, unberührt in den Schubladen liegen. Ich habe die Mappen nicht aufgeschlagen, ich halte mich fern von diesem Zeugnis seiner letzten traurigen Versuche, eine Form von Ordnung aufrechtzuerhalten. Irgendwo in der Tiefe des Sekretärs findet sich wohl auch die Liste der mexikanischen Arbeiter, und sollte ich das Blatt Papier, auf dem sie steht, genauer studieren, läse ich wahrscheinlich den Nachnamen des Jungen, den ich damals, so unglaublich es klingen mag, tatsächlich nicht wusste. Und alle Vorkehrungen für ihren Bustransport vom und zum Frachtterminal des Flughafens vergilben dort im Dunkeln. Wahrscheinlich fände ich auch Dokumente aus der Zeit der Vorfahren, Unterlagen über den Farmbetrieb. In den Schubladen oben links, wo es sicher nach Moder riecht, liegt das Telefonbuch von Essex County aus dem Jahr 1986; die dort aufgeführten Geschäftsleute dürften entweder im Ruhestand oder gestorben sein, und die darin aufgelisteten kleinen Betriebe haben sich unterdessen sicher in Luft aufgelöst. Auch die Mundharmonika liegt dort, auf der mein Onkel manchmal gespielt hat, und ein Fahrplan der Züge, die an dem aufgelassenen Bahnhof nicht mehr halten, und wahrscheinlich auch das Programm der Samstagsveranstaltungen im Sommer-Tanzpavillon am Sanctuary Point, der geschlossen und dann von Vandalen angezündet wurde; mindestens fünfzehn Jahre ist das jetzt her.
    Einmal versuchte ich das Frachtterminal am Flughafen zu finden, weil ich begreifen wollte, wie es für Teo gewesen sein muss, hier anzukommen und wieder abzufliegen, Mensch zu sein und deshalb, rein technisch gesehen, keine Fracht; wie es gewesen sein muss, abgeholt und geliefert zu werden wie Büromaterial oder Auspufftöpfe oder, was wohl passender sein dürfte, landwirtschaftlicher Bedarf, worauf dann der Transport durch den Spediteur zum Empfänger erfolgt. Aber der Flughafen ist heute so riesig, und die Frachtterminals sind so zahlreich, dass ich das eine Industriegebäude nicht vom anderen unterscheiden konnte. So ist es: Terminals, Obstplantagen und Tanzlokale, alles verschwunden oder verloren oder im Wust des Nachfolgenden schlicht unkenntlich geworden. »Ich wollte das nicht«, sagte mein Onkel am nächsten Morgen mit heiserer Stimme, beinahe flüsternd, »aber was hätte ich tun können?« Redete er mit sich oder mit mir? Hätte ich antworten sollen? Hätte ich auch nur die knappste Antwort aus meinem jugendlichen Herzen hervorbringen können? Wir wandten uns voneinander ab, mein Onkel und ich, verschwanden beide auf unserem jeweiligen Weg im abrupten Ende des Sommers. Keine Äpfel mehr am Ast, kein Schwimmen im See.
    Auf Wiedersehn, auf Wiedersehn …

A lle paar Tage besuche ich meine Mutter in der Seniorenresidenz der nächsten Stadt. Teils deshalb, weil ich mit ihr über früher reden will, wenigstens über die Aspekte der Vergangenheit, über die sie zu reden gewillt ist, und zum anderen Teil, weil ich mindestens so einsam bin wie sie. Mandy fehlt mir, obwohl ich sie selten gesehen habe – sie hatte ja nicht viel Urlaub, und unsere gemeinsame Zeit war häufig zerstückelt von ihrem Bedürfnis, alle zufriedenzustellen. Mir fehlen unsere langen Überseetelefonate mitten in ihrer oder meiner Nacht, auch wenn sie oft nur deshalb anrief, weil sie unter dem Mann, auf den sie sich eingelassen hatte, so litt, dass sie es nicht mehr aushielt – manchmal, ich gebe es zu, nahm ich ihr übel, dass sie wirklich kein anderes Thema mehr kannte. Jetzt, wo ich hier wohne, vermisse ich auch die Kinder, die wir waren, bevor alles auseinanderbrach, und ich vermisse die Kinder, die unseren Platz hätten einnehmen sollen.
    The Golden Field, wo meine Mutter jetzt wohnt, ist im Vergleich zu anderen Einrichtungen ganz passabel, und ich bin nicht so abgestoßen, wie ich glaubte sein zu müssen, wenn ich mein Auto auf dem Parkplatz abstelle, die Eingangshalle durchquere und den Korridor entlang bis zu der Tür mit ihrem Namen gehe, Beth Crane steht dort, auf eine kleine Karte gedruckt und direkt ins Holz getackert. Ich bin nach meiner Mutter Elizabeth getauft, aber sie wurde immer Beth genannt und ich einfach Liz. Crane war natürlich der Name meines Vaters, der etwas Abstand
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher