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Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum
Autoren: Jane Urquhart
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mein Onkel eine Art Usurpator, ein Pirat oder Räuber, der sich alles aneignen, von allem den Löwenanteil haben musste. Wäre er jetzt hier, käme er unweigerlich mit mir ins Labor, führte exakt Buch über die Herbst- und Frühjahrswanderungen und wüsste in kürzester Zeit über die Monarchfalter mehr als ich, die ich sie so lange studiert habe.
    Aber damals in unseren Sommern weckten eher das Segelboot, das Don zu bauen versuchte, oder Mandys Fossiliensammlung seine Aufmerksamkeit. Die Fossilien waren ein Hobby, dem sie seit Jahren nachgegangen war, und das, soweit wir wussten, nie zu seiner Kenntnis gelangt war – bis er es dann doch zur Kenntnis nahm und alsbald zum Experten wurde. Sehr schnell hatte er zwischen den Kieseln am Strand eine Menge Fossilien gefunden, eines seltener und erstaunlicher als das andere. Eine Woche später ließ er Wörter wie Trilobit und Protozoon in seine Sätze einfließen und rezitierte beim Abendessen lange Listen lateinischer Namen für prähistorische Lebensformen. Dann stellte er absurde Forderungen an die errötende, auf ihren Teller starrende Mandy, wollte von ihr die Lebensgeschichte eines Brachiopoden wissen oder fand, sie sollten jetzt gleich miteinander losziehen und sehen, wer von ihnen als Erster einen Graptolithen am Kiesstrand fände. Ich glaube nicht, dass Bosheit oder Konkurrenzdenken dahinterstand; vielleicht war es nur Hänselei. Ich denke, er wird bei den Beschäftigungen, die andere Leute liebten, eine besondere Ruhe und Beständigkeit wahrgenommen haben, ein kleines, aber nachhaltiges Glück, und in seiner eigenen Unzufriedenheit – falls er tatsächlich unzufrieden war – strebte er ebenfalls dorthin, wo dieses Glück zu haben war. Mag sein, dass er einfach eine Art Zuflucht suchte.

    Für manche Mitglieder meiner Familie, genauer gesagt, der Familie meiner Mutter, und vor allem für die Männer war es unabdingbar, in der Nähe von Wasser zu leben. Anscheinend brauchten sie als Erholung von der Anstrengung, die es bedeutete, mitten in der Wildnis sowohl nährendes Weideland als auch brauchbare Ernten zustande zu bringen, wenigstens nachts im Schlaf die Nähe eines ungebärdigen Elements, das sie zwar sahen, bei dem sie sich aber sagen konnten, dass sie es nicht beherrschen mussten. Mein Onkel sagte, es sei immer so gewesen; jeder Acker, den ein Butler pflügte, jede Weide, auf die er sein Vieh trieb, endete auf einer Seite mit einem Küstenstreifen.
    Um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts hatte sich die Familie allerdings gegabelt; die eine Hälfte ging weiterhin der Landwirtschaft nach – und wenn man sich ansieht, wo sie ihr nachging, nämlich im Südwesten Irlands, war der Erfolg zweifellos bescheiden – , während die andere einen Beruf ergriff: den des Leuchtturmwärters.
    Die Leuchtturmwärter werden irgendwann in die irische Leuchtturmverwaltung aufgenommen worden sein, die »Commissioners of Irish Lights«, wie sie sich hochfliegend nannten, und bei ihren Brüdern galten sie wahrscheinlich insofern als Glückspilze, als sie dadurch einen anerkannten Posten bekamen, ein Haus, Tafelsilber mit Monogramm und gusseisernes Kochgeschirr mit dem eingeprägten Motto In Salutem Omnium . Sie bekamen Lampen zur Betreuung, mussten sich gegen Stürme behaupten und Leben retten und bewohnten einen erhöhten Aussichtspunkt. Ihre bäuerlichen Brüder hingegen kämpften, solange sie noch in Irland waren, mit sumpfigem, widerspenstigem Land, riesigen eiskalten Häusern, kränklichem Vieh, trübsinnigen Gattinnen und verarmten, letztlich hungerleidenden Pächtern. Die Nordamerikaner der Generation meines Onkels machten die Gabelung wieder gut, indem sie geschlossen auf die Scholle zurückkehrten. Als ich zur Welt kam, hatte es schon ein halbes Jahrhundert keinen Leuchtturmwärter in der Familie mehr gegeben, allerdings war der Leuchtturm, den mein Urgroßonkel bemannt hatte, von uns aus noch zu sehen – er steht am Ende des nahen Sanctuary Point – und leuchtete und leuchtet heute noch, inzwischen allerdings vollständig automatisiert.
    Heute ist so ein Tag, wie ihn sich ein Leuchtturmwärter erträumt: strahlend blauer Himmel und ein gleichmäßiger Wind, kräftig genug, um selbst schwerfällige Segelschiffe nautische Hindernisse pfeilschnell wie Insekten umschiffen zu lassen, aber nicht so stark, als dass dieselben Schiffe an der Küste zu zerschmettern drohten. Alles leuchtet und funkelt; die Wellen tragen pittoreske weiße Schaumkronen, aber die Dünung ist
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