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Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum
Autoren: Jane Urquhart
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Ihre Haltung, ihr Auftreten waren vollkommen.
    Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mir kaum Gedanken darüber gemacht, wie eine erwachsene Person auf innerliche, unausgesprochene Weise auf eine andere reagieren könnte. Meinem sechzehnjährigen Verstand erschien das ganze Wesen der Erwachsenen derart festgefügt, derart unverrückbar – selbst der Wankelmut meines Onkels folgte vorhersagbaren Mustern – , dass die Vorstellung, ein Mitglied dieser Gemeinschaft könnte eine heimliche Reaktion bei einem anderen auslösen, zumal innerhalb meiner Familie, schlechthin undenkbar war. Ich hatte inzwischen meine eigenen geheimen Launen und glaubte, der Weg in Absonderung und gedankliche Entrücktheit, auf den ich geraten war, sei etwas allein mir Vorbehaltenes, vielleicht weil ich nicht alt genug war, um diesen Zustand auch wieder abzuschütteln. Im Verlauf des vergangenen Monats war, während ich mit meinen Cousins geredet und gelacht hatte, mit ihnen schwimmen gewesen war, nach dem Abendessen im Hof Fußball gespielt oder Geschirr abgetrocknet hatte, in mir etwas herangewachsen, das sich meiner Kontrolle entzog: eine Vielfalt von Sehnsüchten. Aber so hätte ich das damals nicht genannt.
    Mein Onkel sah seine Frau an, und zum ersten Mal konnte ich seine Gedanken lesen, wie dunkle Fische hinter der Ernsthaftigkeit seiner blauen Augen. Er braucht sie, dachte ich, und er bewundert sie, aber recht ist ihm beides nicht, weder seine Abhängigkeit von ihr noch seine Bewunderung. Ihre Schönheit und ihre Stärke machten ihn irgendwie kleiner. Zumindest erinnere ich mich, dass ich so dachte, aber ich gebe zu, es könnten auch Beobachtungen gewesen sein, die ich im Rückblick anstellte – für das Mädchen, das ich damals war, sind sie viel zu kompliziert. Aber egal, wie ich diesen Blick damals deutete, ich registrierte ihn und erschrak; und die Frage, was er wohl bedeuten mochte, ja alles, was zwischen diesem Paar unausgesprochen war und mir, natürlich, für immer verschlossen bliebe, machte mir eine unbestimmte Angst.
    Was fange ich jetzt an mit dieser ganzen Zweideutigkeit, die sem Zwei fel? Ich kann nichts davon aufklären, kann keinen Lichtstrahl darauf richten, in dem manches vielleicht verständlicher würde. Trotz der Bestätigung durch spätere Ereignisse liegt jede Theorie, die ich mir zurechtgelegt habe, verworfen in einer Ecke. Ich habe sogar versucht, das Gegenteil dessen zu betrachten, was ich damals ahnte und später beobachtete, weil ich mir sagte, wenn ich zumindest das widerlegen könnte, ließe sich die eine oder andere Hypothese bestätigen. Aber dieser Überlegung kann man unmöglich bis zu ihrem logischen Schluss folgen. Es gibt keine wissenschaftliche Methode, mit der sich beweisen ließe, dass der Blick, den ich auffing, nicht unbeschwerte Anbetung war und auch nicht die leiseste Andeutung herannahender Verachtung ihn trübte. Meine Tante war schön und begabt und von einer Intelligenz, die er bewunderte, und er liebte sie, Punktum, Ende der Geschichte.
    Aber es ist eben nicht das Ende der Geschichte. Die Geschichte endete auf jämmerlichste Weise draußen auf der Sanctuary Line, der Straße, die ich jeden Tag zur Forschungsstation fahre. Vielleicht auch schon früher, während wir noch durch die Sommertage tollten und uns an den Möbeln der Vergangenheit festhielten. Ja, vielleicht war das schon das Ende. Zum Beispiel spürte ich in derselben Minute, in der mir der Junge mit der Hand durchs Haar fuhr und sein Gesicht an das meine legte, dass sich etwas veränderte und hinter mir verschloss; etwas ging zu Ende, das spürte ich. Oder es war erst der Anfang vom Ende – vielleicht war der eigentliche Abschluss der militärische Pomp, diese Zeremonie, mit der die arme, zarte Mandy aus einem Land, dessen Namen wir als Kinder wahrscheinlich nicht einmal gekannt hatten, zurückgeholt und zu dem alten Friedhof gebracht wurde, auf dem ihre weitgehend vergessenen Ahnen ihre Ankunft erwarteten.
    Volle zwei Jahrzehnte Lebenserfahrung später wundere ich mich immer noch, dass ich so wenig verstanden habe – was dort drüben mit Mandy passiert ist, war mir ebenso rätselhaft wie die Ereignisse jener Nacht vor vielen Jahren, in der alles zusammenbrach. Obwohl wir in den frühen afghanischen Morgenstunden endlose Telefonate führten, bei denen Mandy, eine brillante Offizierin und ehrgeizige Militärstrategin, den Krieg mit fast keinem Wort erwähnte, weil ihre obsessive Leidenschaft sogar diese andauernde Katastrophe in
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