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Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum
Autoren: Jane Urquhart
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den Hintergrund gedrängt hatte, obwohl sie sich während mehrerer Heimaturlaube wirklich sehr bemühte, sich allen ihren alten Freunden zu widmen, auch wenn sie in Gedanken zwanghaft immer nur bei dem einen Mann war, und obwohl sie, nachdem sie in dieses Haus zurückgekehrt war, in eine wahre Geständnisorgie verfiel, mit mir als völlig ungeeigneter Beichtmutter – obwohl alles so war, drangen ihre Worte nicht wirklich zu mir durch. Aber wenn man von einer ausschließlichen Leidenschaft ergriffen wird und sich in diese geheime Welt begibt, besteht anscheinend kein Grund, weshalb man jenseits des Schutzes, den man um das Geheimnis errichtet hat, irgendetwas zur Kenntnis nehmen sollte. Ich müsste es wohl Schicksal nennen, falls ich an Schicksal glaubte. Offenbar gab es keine Geräte oder Methoden, um es zu analysieren, verstehen Sie, und auch keine Waffen, um es in die Luft zu jagen. Ich konnte nur annehmen, dass verborgene, unerforschliche Kräfte am Werk seien. Aber ich bin Wissenschaftlerin. Als solche muss ich davon ausgehen, dass etwas, das unerforschlich erscheint, einfach noch nicht gründlich genug untersucht worden ist.
    Das Problem am wissenschaftlichen Klassifikationsschema – Lebewesen, Reich, Stamm, Klasse, Ordnung, Familie, Gattung – ist, dass die Systematik den Anspruch erhebt, sie könne Vorhersehbarkeit und Trost in unsere Welt bringen, in Wahrheit aber keinen der beiden Zustände herbeizuführen vermag. Ich habe gelernt, dass wir jede Lebensform klassifizieren können, einfach indem wir methodisch diese Liste durchgehen. Das gilt für alles – das heißt, sofern es nicht ausgestorben ist; dann erfüllt es seine wissenschaftlichen Pflichten in umgekehrter Richtung. Sich langsam durch die Abteilungen aufwärts zu arbeiten, das ist Schöpfung im Rückwärtsgang. Erst verschwindet eine Art, dann eine Gattung, dann eine Familie, eine Ordnung, eine Klasse. Das Aussterben ist gnadenlos, und es floriert. Ich glaube, am Ende wird es gewinnen.
    Jetzt verbringe ich meine Zeit zwischen Freigelände und Labor, zwischen Lebendigem und Totem. Alles ist gefährdet, nicht nur der orange-schwarze Danaus p. plexippus aus der Familie der Lepidoptera, sondern alles. Die alten Ställe und Scheunen – sofern sie nicht ohnehin niedergebrannt sind oder abgerissen wurden – werden morsch und stürzen ein. Die kleinen weißen Kirchen, die noch nicht verkauft und in ein Café oder Antiquitätengeschäft umgewandelt wurden, sind sonntags fast leer. Alle meine Vorfahren und ihre Häuser ruhen in ungeöffneten, unbesehenen Alben. Weder meine vielgeliebte Cousine noch mein rätselhafter, getriebener Onkel kehren je zurück.

M ein Onkel war ein dynamischer Mann, experimentier- und risikofreudig, immer strebte er nach Neuerung in einer traditionellen Welt, immer wollte er der Erste sein, der eine exotische Sorte anbaut, innovatives Gerät benutzt, sich auf die Wissenschaft der landwirtschaftlichen Chemie einlässt, neuartige Gebäude errichtet. Vielleicht weil er, wie ich heute glaube, in die Zeit der Blüte hineingeboren wurde, in der die Mühen seiner Vorgänger die reichsten Früchte trugen, wusste er, dass das Festhalten an der Tradition, wie sehr man auch an ihr hängen mag, letztlich nur ihren Niedergang beschleunigt. Er, der in diesem Bezirk, in Essex County, groß wurde, als die zweite Generation Bäume in ihre besten Jahre kam und die Weiden und Äcker und aller Viehbestand gehegt und gepflegt, die Kinder ausgebildet und geimpft wurden, hätte sein Leben lang zusehen können, wie alles, was er bewunderte, ringsum alt und bedeutungslos wurde, hätte ihn nicht sein innerer Antrieb nach ständiger Veränderung suchen lassen. Er war der erste Landwirt in diesem Teil Ontarios, der zwei Erdbeerernten pro Saison zustande brachte, und einer der ersten, der ausländische Arbeiter einstellte. Er fand Wege, um die Entwicklung von Pflanzen und das Wachstum von Bäumen so zu staffeln, dass er seine Arbeiter bestmöglich einsetzen konnte und fünf oder sechs ansehnliche Ernten im Sommer einfuhr. Er ließ eine Barackenunterkunft für Saisonarbeiter bauen und Mexikaner nach Toronto einfliegen, wo sie am Frachtterminal ankamen, und bevor irgendwer seine Absichten hinterfragen konnte, hatte er schon die Regierungen beider Länder zur Zustimmung überredet. Und obwohl er niedrige Löhne zahlte, behandelte er seine Angestellten freundlich, ohne gönnerhaft zu sein. So hatte man es uns jedenfalls erzählt – vielleicht er selber. Und
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