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Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum
Autoren: Jane Urquhart
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er kam uns damals wirklich so vor. Es waren dieselben Männer, die aus freien Stücken Jahr um Jahr wiederkamen, dieselben Männer und wenigen Frauen kamen wieder und arbeiteten ausdauernd von früh bis spät; dies alles auf der ältesten Farm von Essex County, auf den Feldern und in den Obstplantagen rings um dieses wunderbare alte Feldsteinhaus. Es wurde, wie ich Ihnen schon sagte, in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts vom zweiten kanadischen Butler erbaut – sicher ohne einen Gedanken an mexikanische Landarbeiter oder chemische Landwirtschaft – , erbaut zu einer Zeit, in der jeder Obstbaum, der wuchs und gedieh, und jedes Tier im Stall, das groß und fett wurde, als Geschenk erschien, das die Butlers dem relativ gemäßigten Klima in Seenähe, den harten Nutzhölzern und dem wunderbar reichen Boden dieser Gegend verdankten, die seinerzeit »die Front« hieß. Damals wurden verschiedene Obstbäume auf der Farm nach den Männern aus der Familie benannt, die sie gepflanzt hatten, weshalb es Ebers Baum und Orans Baum gab; seltsamerweise gab es sogar einen Mathildenbaum, aber wer Mathilda war, konnte uns niemand sagen. Apfelsorten wurden nach ihren Herkunftsorten in der Alten Welt identifiziert oder gelegentlich auch nach den Gegenden in der Neuen Welt, wo sie zum ersten Mal angepflanzt worden waren: St. Lawrence, Northern Spy, Hubbardston Nonesuch, King of Tompkins County oder der berühmte Butler Light, so benannt nach dem Zweig der Leuchtturmwärter in unserer Familie. Das erzählte uns jedenfalls unser Onkel Stan Butler. Um die Zeit, als meine Cousins und ich auf die Welt kamen, gab es auf der Farm keinen einzigen exotischen Apfelbaum mehr, nur der verlässliche McIntosh war geblieben, weshalb wir weder die Blüten noch die Früchte dieser legendären, entschwundenen Bäume zu sehen und zu kosten bekamen.
    Was kann ich über meinen Onkel Stanley sagen? Dass er der Vater war, den ich nie wirklich hatte, der Mann, der mich auf dem Weg des Erwachsenwerdens begleitete? Nein, er war der Vater, den ich nie haben konnte , der aufgedrehte, ausgelassene, von Witzen und Späßen strotzende Vater, von dem wir bedeutend klingende, oft widersprüchliche, aber – zumindest für uns – immer eigenartig glaubwürdige Aussagen über Politik, Geschichte, Viehwirtschaft, Obstbaumveredelung und -schnitt zu hören bekamen. Er veranstaltete spontane Sommerabenteuer: Ausflüge im Pritschenwagen zu gespenstischen alten Mühlen und verlassenen Käsefabriken in den abgelegenen Ortschaften, von denen nur er zu wissen schien. »Ich gehe auf Erkundung!«, pflegte er an Sonntagnachmittagen zu verkünden und sprang vom Stuhl auf. Als Kinder, noch als junge Teenager rannten wir hinter ihm her, riefen ihm nach, bettelten darum, mitgenommen zu werden, woraufhin er sich, mit gespielter Resignation, erweichen ließ, so als hätte er tatsächlich vorgehabt, allein zu fahren. So viel Überschwang und Begeisterung! Und daneben seine düsteren Stimmungen, die ebenso bedeutend und bewundernswert waren, einfach weil sie von ihm kamen.
    Natürlich lagen wir ihm alle zu Füßen und warben wie verrückt um seine Gunst, aber die war nicht immer zu bekommen, auch wenn wir uns noch so sehr bemühten, ihm zu gefallen. Zwar war er selten unfreundlich, doch verfiel er von Zeit zu Zeit in eine unbestimmte Verschlossenheit, manchmal sogar völlige Abwesenheit, mitten unter uns, als hätte er sich mit einem grauen Vorhang abgeschottet. Im Nachhinein sehe ich, dass er sich immer weiter zurückzog, je mehr wir uns um ihn bemühten. Dann aber brachte ihn plötzlich irgendeine Kleinigkeit, an die niemand von uns gedacht hatte, wieder zurück, und das war fast immer ein äußeres Ereignis, etwas, das mit ihm direkt nichts zu tun hatte.
    Einmal war es mein Vetter Shane, der mit vielleicht elf Jahren begonnen hatte, aus Treibholz, das er am Seeufer fand, Bauernhoftiere zu schnitzen. Mein Onkel, wissen Sie, interessierte sich weniger für die Schnitzereien als solche als vielmehr für Shane, der in seiner Arbeit völlig aufging – vielleicht war das ein Fenster zum Charakter seines Sohnes, das ihm bis dahin entgangen war. Und auf einmal, ohne Vorwarnung, stürzte er sich selbst auf das Tierschnitzen, durchforstete Bibliotheken nach Literatur zum Thema, fand das genau richtige Stück Treibholz am Strand, bestand darauf, dass wir alle mitmachten, bis Shane vom Enthusiasmus seines Vaters schließlich vollkommen erdrückt war. In diesem Sinn, das ist mir heute klar, war
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