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Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum
Autoren: Jane Urquhart
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nicht schwer genug, um gefährlich zu sein. Der anlandige Wind setzt die Baumkronen in Bewegung und erzeugt ein interessantes Licht-und-Schatten-Spiel auf dem Gras, ist aber nicht so heftig, als dass er Schmetterlinge zu Boden drückte, im Gegenteil – viele von ihnen nutzen offensichtlich den Aufwind, um sich ohne Anstrengung von Blüte zu Blüte tragen zu lassen.
    Gelegentlich höre ich das Gebrumm eines der alten Flugzeuge, die am anderen Seeufer, auf dem Flugplatz in Ohio, zu Ausbildungszwecken benutzt werden, und sehe es feierlich über dem Wasser kreisen. Während Mandys Such- und Rettungsdienst-Phase auf den Großen Seen trainierte sie eine Zeitlang mit einem kanadischen Militärflugzeug – das war, kurz bevor sie sich am Royal Military College einschrieb – , und dabei flog sie direkt über den Eriesee, ihre alte Farm, ihr früheres Leben hinweg. Aber sie hatte die Augen auf die Instrumententafel und den Himmel geheftet und dann auf die paar vereinzelten Waldflecken und blickte kein einziges Mal zu den Relikten der Obstplantagen hinunter. Das sagte sie jedenfalls später, als ich sie fragte.

    In meiner Kindheit und frühen Jugend fuhren meine Mutter und ich Jahr für Jahr im Juni aus der Innenstadt Torontos los, die Sommerkleider auf dem Rücksitz des Buick und die Fenster dem Fahrtwind geöffnet, und fuhren drei Stunden Richtung Westen zu dieser Farm. Den größten Teil des Jahres verbrachten wir in dem Backsteinhaus, das mein Vater noch gekauft hatte, bevor er starb – so lang ist das her, dass ich mich kaum noch an ihn oder an ein anderes Haus davor erinnere; und so kurz war für meine Mutter die Ehe, dass sie – und ich mit ihr – mühelos in ihre ursprüngliche Familie zurückfand, in die Generationen von Bauern, die irische Herkunft, die Identifikation mit dem erst angeeigneten, dann aufgegebenen Land in Ontario. Das Stadthaus war eine Annehmlichkeit; wir hatten ein Dach über dem Kopf, wenn ich zur Schule ging und meine Mutter zu ihrer Arbeit als Sekretärin an derselben Schule. Aber es hatte nichts von dem Zauber, dem Glanz der Farm am See, dem Haus, in dem meine Mutter zur Welt gekommen war und ihr Vater und Großvater vor ihr. Dort empfingen uns jeden Sommer die Bäume im Garten und die uralten Zäune auf den Feldern und Weiden, die von fernen, diffusen, von meinem Onkel für uns neu zum Leben erweckten Ahnen stammten. Und dort war auch der Mann, den ich in Gedanken immer meinen anderen Onkel genannt hatte, der zweite Bruder meiner Mutter, der mit Frau und Kindern, meinen anderen Cousins, in der Stadt Kingsville lebte. Dort gab es den Blick auf den See und endlose Spiele mit Mandy, Don und Shane und den anderen Cousins, die nicht auf der Farm wohnten, aber am Wochenende aus dem elterlichen Auto platzten und, wie auf ein geheimes Stichwort hin, mit uns zum See rannten.
    Mandy war knapp zwei Jahre jünger als ich, aber davon war eigentlich kaum etwas zu spüren. Das mag daran gelegen haben, dass sie nicht mit uns anderen auf der Farm herumtollte, sondern las und ihr Wissen um Erfahrungen aus der Welt außerhalb unserer Gegend mitsamt ihren Ahnengeschichten erweiterte. Sie verschlang den gesamten Dickens, das weiß ich noch, und konnte mit Sachkenntnis über Waisenhäuser und böse Stiefeltern reden. Als sie zwölf war, nahm Walter Scott ihre Fantasie gefangen, und mit ihm kamen Kriege und Liebesabenteuer. Ihre Büchersucht war etwas ehrlich Erworbenes, ein Erbe von mehreren Ururen, aber davon erzähle ich später. Robert Louis Stevenson führte sie in die Lyrik ein, und das schon in sehr jungen Jahren. Ich habe in letzter Zeit angefangen, Mandys Bücher zu lesen, und neulich hielt ich den Versgarten eines Kindes in den Händen. Wie hätte ich nicht an unsere vergangenen Sommer denken sollen, als ich diesen Vers las:
    Haus, Garten, Wiese, Feld und Wald:
    Lebt alle wohl, wir reisen bald. […]
    Schon geht es los, die Peitsche knallt,
    der Bauernhof wird kleiner bald,
    dann ist er vollends außer Sicht:
    Vergessen werden wir ihn nicht.
    Meine Mutter war die Erste – in ihrer Generation die Einzige – , die durch Eheschließung den ersten zögernden Schritt ins Geschäfts- und Berufsleben, in die städtische Welt getan hatte. Die nächste Generation, wir Cousins, folgte ihr dann begeistert. Niemand, niemand ist mehr da. Ich lebe in einer Umgebung, in der ich täglich mit Abwesenheit konfrontiert bin. Aber am dramatischsten und vorsätzlichsten war das Verschwinden meines Onkels, sein Aufbruch
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