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Aufenthalt in einer kleinen Stadt

Aufenthalt in einer kleinen Stadt

Titel: Aufenthalt in einer kleinen Stadt
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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FRIEDRICH DÜRRENMATT

    AUFENTHALT IN EINER
    KLEINEN STADT

    FRAGMENT

    Non-profit ebook by tigger
    Oktober 2003
    Kein Verkauf!

    VERLAG DER ARCHE ZÜRICH

    Aufenthalt in einer kleinen Stadt, ein Romanfragment, wird hier erstmals veröffentlicht. Das Kapitel «Im Coiffeurladen» erschien am 21. April 1957 in der «Neuen Zürcher Zeitung».

    Copyright © 1957 und 1980 by Peter Schifferli Verlags AG «Die Arche», Zürich.
    Die Texte wurden für diese Ausgabe durchgesehen und korrigiert Redaktion: Thomas Bodmer
    Alle Rechte an dieser Edition vorbehalten Werkausgabe 1980 im Verlag der Arche, Zürich ISBN 3 7160 1722 1

    Aufenthalt in einer
    kleinen Stadt
    Fragment
    1953

    Die Ankunft

    Bertram, der letzte Freiherr von Schangnau, der sich seit mehreren Jahren de Schangnau nannte, ein nach Strich und Faden verkrachter Bankier, fuhr mit dem letzten Zug seinem Wohnort Yverdon zu.
    Auf der Suche nach einer neuen Beschäftigung war er in Basel gewesen bei einem ebenfalls ruinierten Geldmenschen, dessen Sturz den seinen verschuldete (oder umgekehrt, wie der Basler behauptete), und dem es mit den letzten Moneten gelungen war, einen Verlag zur Verteidigung des Abendlandes zu gründen, ein durchsichtiges Geschäft, das überraschend gut gedieh, obgleich gerade ihm ein jeder den Zusammenbruch voraussagen konnte; doch hatte de Schangnau das Angebot, als Reisender dem jungen Unternehmen beizutreten, vorderhand noch abgelehnt, da ihn die Hoffnung nicht ganz verlassen hatte, beim Verband der Neuenburger Weißweinhändler als Sekretär und Propagandachef eingestellt zu werden.
    Er fuhr seinem Ziel durch milde Winterlandschaften entgegen, die wie verblichene Prospekte vorbeiglitten. Er war dreiundvierzig, ein Mensch von der alltäglichsten Sorte –
    sehen wir von seinem vielleicht mehr legendären als wirkli-chen Berner Adel ab – in einer unmöglichen finanziellen Lage, wie ja viele unter uns, mit einem zehnjährigen Mädchen zu Hause und einer Frau, die er geheiratet hatte, um seine Bank irgendwo unterzubringen, wie er sich dies jetzt eben gestand: War Madeleine doch eine geborene Le Locle, ebenfalls die letzte ihres Geschlechts und als solche im Besitz eines düste-ren, aber pompösen Hauses in Yverdon (am ›Place‹ zwischen dem Schloß und der Kathedrale).
    Er stand im Korridor, den grauen Tweedmantel übergeworfen, gegen ein Fenster gelehnt, untergegangen im öden Einerlei 5

    des schweizerischen Alltags. Er blickte nach dem Erstklaßabteil, wo ein Reisender den Mantel anzog, auch Tweed, auch grau, um wohl beim nächsten Halt auszusteigen. Er erinnerte sich, im Höhepunkt seiner Bankgeschäfte ebenfalls Erster gefahren zu sein, in diesen kleinen, rotgepolsterten Stuben mit den farbigen Hodlers und Böcklins, Calames und Ankers an den Wänden zur Erziehung der oberen Zehntausend und mit den stets etwas neidischen und vorwurfsvollen Gesichtern derer, die hinter den Innenscheiben den Korridor passieren.
    Als sich die Schwierigkeiten einstellten (die Wechsel, die nicht einzulösen, die Aktien, die wertlos waren, die beinahe ge-fälschten Unterschriften, die Polizei, die mehrere Male erschien), hatten ihn die Coupés zweiter Klasse umgeben, Coupés, die nur noch von Bildern der Heimat geziert waren: die Berner Altstadt etwa, das Kloster Einsiedeln, die Blümli-salp von Westen, der Napf von Süden und das Matterhorn von Norden her oder die Payerner Kathedrale. Bald würde er in den beinahe kahlen, beinahe kultur- und heimatlosen Wänden der dritten Klasse reisen, wie er sich dies einmal vorgenom-men hatte. Auch jetzt eben.
    Draußen war es längst Nacht geworden. Der Zug hatte es nicht sonderlich eilig dem Jura entlang, er hielt da und dort. De Schangnau ärgerte sich, daß erden schnelleren Zug über Delemont verpaßt hatte und nun den Umweg über Ölten machen mußte. Der Koffer und die Mappe lagen im Netz über seinem verlassenen Sitz, drei Tage war er fort gewesen, die Engländerin hatte er auch wieder getroffen. Im christlichen Hospiz. Auch dies war ein Abstieg. Einst war er seinen Ehe-brüchen in den ›Drei Königen‹ oder, war er in Zürich, im
    ›Baur au Lac‹ nachgekommen. Gelangweilt schaute er ins Abteil zurück, das er verlassen hatte, sich im kälteren Korridor von der Wärme zu erholen. Die Züge wurden überheizt in diesem Lande. Zweiundzwanzig Grad, wer hielt das auch aus.
    Der Student war über seinem Lehrbuch der Anatomie einge-6

    schlafen, und der Handlungsreisende, der in Oensingen einge-stiegen war, döste
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