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Aufenthalt in einer kleinen Stadt

Aufenthalt in einer kleinen Stadt

Titel: Aufenthalt in einer kleinen Stadt
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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eine Telefon-automatensäule, vor dem Hotel kahle Bäume, und vom Städtchen her wehten Stimmen, Musik, Singen. Über allem ein halber Mond, dann, noch weiter entfernt, ein Stern, wie hinge-setzt auf den silbergrauen Grund. Der ruinierte Bankier fühlte sich verlassen, gescheitert, an eine böse Küste geworfen. Die Sehnsucht nach etwas Warmem stieg in ihm auf, nach seiner Stube zu Hause mit dem Wappen der Le Locles über dem Kamin, nach dem Familientisch, nach seiner Frau sogar. Er haßte mit einem Male alles Reisen, wie er auf diesen nächtlichen Platz starrte, alle Engländerinnen, alle unehrlichen Manöver, die ganze Welt der Schiebungen und der Geschäfte, in der er sich so ungeschickt bewegte. Er beschloß, das Taxi zu nehmen, welches angefahren kam, das letzte Taxi, das er sich leisten wollte. Kaum, daß es hielt:
    »Wilhelm Teil«, sagte de Schangnau, als sich die hintere Wagentüre öffnete, und stieg ein.
    Daß dieses Taxi nicht in Ordnung war, bemerkte der Bankier erst später. Er raste davon in einer recht eigentlich höllischen Geschwindigkeit, den Häuserreihen entgegen, dann durch eine 9

    breite Geschäftsstraße, voll von Menschen vor hellen Läden, an Kinos vorbei. De Schangnau lehnte sich zurück und schaute durch die Scheibe. Er hatte sich Konigen anders vorgestellt,
    »ein Nest wie Konigen« war ein Sprichwort im Lande, nun schien es ihm während dieser nächtlichen Fahrt etwas Groß-
    städtisches zu haben, so daß ihm denn auch das rücksichtslose Gebaren des Chauffeurs natürlich schien, doch als er seinen Blick zur anderen Scheibe wandte, bemerkte er, daß er sich nicht allein im Wagenhintergrund befand. Neben ihm saß einer, nur undeutlich, nur als Silhouette zu erkennen, ebenso zurückgelehnt wir er.
    »Nun«, sagte der andere, »es gilt, in zwei Minuten geht sie los!«
    Ehe de Schangnau begriffen hatte, wurde ihm ein runder Gegenstand in den Schoß gelegt, groß wie ein Kopf, schwer und aus Metall, ein Gegenstand, den er unwillkürlich an sich preßte.
    Der Wagen hielt, und der Bankier stand draußen, mitten auf einem kleinen, alten Platz, gepflastert, umgeben von ehrwürdigen Gebäuden, siebzehntes, achtzehntes Jahrhundert, und einem Hochhaus, das nicht recht dazu paßte. Der andere hatte ihn hinausgeworfen, er stürzte beinahe, kaum daß er sich auf den Beinen halten konnte. Was sei, wollte er schreien, bevor der Wagen, aufheulend, in eine Gasse einbog und verschwand.
    Doch kam er nicht zum Protestieren. Denn als er sich den Gegenstand besah, den er in den Händen hielt, war es eine Bombe.
    Wir geben die ungewöhnliche Situation zu: Ein Bankier, nach Strich und Faden verkracht, mit einer Bombe, die in nun nicht ganz zwei Minuten zu explodieren drohte, mitten in einem nächtlichen Städtchen, von dem er nichts weiß als den Namen, das er eben zum erstenmal in seinem Leben betreten hat: eine Situation, die denn auch de Schangnau mit einem Schlag aus der Gleichgültigkeit zu reißen drohte, in die er 10

    gesunken war in allem, was er unternommen hatte, sei es seine Ehe am ›Place‹ in Yverdon, seien es seine mißglückten Geschäfte gewesen.
    Das Erwachen war schmerzlich. Das Abenteuer, das ihm so unvermutet zugestoßen war, wünschte er in alle Himmel. Er stand da, jämmerlich, bleich, frierend, den unheimlichen Gegenstand in Händen und eben im Begriff, die Bombe niederzulegen und davonzulaufen, was auch das natürlichste schien. Doch er wurde gestört.
    Von der Kirche her, die er hinter den Häusern emporragen sah, brach ein Umzug in den Platz ein, eine Blasmusik, die Musiker mit funkelnden Helmen, in schwarz-roten Uniformen, Notenblätter vor den Gesichtern an die Instrumente geheftet, die Feuerwehr offenbar, die nun mit feierlicher Macht einsetz-te, ›Näher mein Gott zu Dir‹, hinter ihr Fackeln, Menschen; Fenster öffneten sich.
    De Schangnau, nicht ganz kopflos, überzeugt, schon von vielen bemerkt worden zu sein, bedacht, keine Opfer zu riskieren, wich in ein schmales Gäßchen zurück, ins nächstbe-ste (was blieb ihm anderes übrig), rannte durch eine Häuser-schlucht, die kein Ende nahm, an Neugierigen vorüber, die zum Umzug strebten, bis er nicht mehr weiterkonnte.
    Vor ihm stand ein alter Turm, mit Scheinwerfern hell erleuchtet, romanisch oder gotisch, was wußte der Bankier, mit einem riesigen Zifferblatt, mit goldenen Zeigern, unter denen sich jetzt eben Figuren bewegten, der Papst, der Kaiser, der Bürger, weiter oben nickten Apostel, ein Tod schwang eine Sense. Es
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