Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aufenthalt in einer kleinen Stadt

Aufenthalt in einer kleinen Stadt

Titel: Aufenthalt in einer kleinen Stadt
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
Vom Netzwerk:
begann dumpf zu schlagen. Zehn Uhr. Der Torbogen des Turms war leer, eine weitoffene Höhle, der Turm unbe-wohnt, wie es schien, mit einer Tafel über dem Tor: Museum, Besuchszeiten zehn bis zwölf, zwei bis fünf. Nur noch wenige Sekunden. De Schangnau erinnerte sich, den Turm irgendwo gesehen zu haben, vielleicht unter den Heimatbildern in den Zweitklaßcoupés, als etwas, wenn nicht für die Schweiz, so 11

    doch für Konigen Berühmtes, Ehrwürdiges, Sinnbildliches, doch bot das Gebäude die einzige Möglichkeit, niemanden zu gefährden wenn überhaupt noch eine vorhanden war, denn schon näherte sich der Festzug, wurde das Blasen gewaltiger, immer noch ›Näher mein Gott zu Dir‹, öffneten sich auch hier überall die Fenster. Und so warf er denn die Bombe durchaus mit dem Gefühl einer schmerzlichen Humanität unter den Turm und rannte gegen die nächste Tür, die nachgab. Der Bankier stolperte in einen Hausgang, noch hörte er einen Schlag der Turmuhr, einen Glockenton des Jüngsten Gerichts, noch einen zweiten, dann kam die Explosion.
    Der Korridor, in den der Attentäter sich zurückgezogen hatte, schwankte, Feuer stand in der Türe, das Getöse war ohneglei-chen. De Schangnau fühlte, wie Gips auf ihn niederrieselte, und zog sich weiter ins Innere des Hauses zurück, da draußen nun ein unermeßliches Zusammenkrachen anhob. Er tappte vorsichtig weiter und stieß gegen eine Türe, die sich öffnen ließ. Er hatte Glück. Er stand auf einer Straße, einem Gasthaus gegen-
    über, dessen Schilder die unverkennbare Figur des schweizerischen Nationalhelden zierte, wie der Bankier erleichtert feststellte; nur noch wünschend, sich in ein Bett legen und eine Decke über die Ohren ziehen zu dürfen, komme, was da wolle.

    12

    Im Coiffeurladen

    Er schlief bis neun. Wie von ferne hatte er beim Auskleiden und Einschlafen, zitternd und frierend von seinem Abenteuer, die heranheulenden Feuerwehrwagen, das erregte Zusammen-laufen der Massen noch vernommen. Dann, jäh erwacht, erstaunt, daß schon die Sonne durch die Vorhänge schien, war jedoch nicht die drohende Verhaftung seine erste Sorge, die würde schon von selber kommen, das Spießrutenlaufen zur Polizei an der Seite eines biederen Beamten, das peinliche Verhör, der Unglaube, mit dem man seinen Bericht aufnehmen würde; was ihn quälte, war, daß er nur noch zehn Franken besaß, das einzige Vermögen, welches er zur Zeit aufzuweisen vermochte.
    Im ›Wilhelm Tell‹ hatte er sich nach alter Gewohnheit als Bankier eingeschrieben, ›Bertram de Schangnau, Directeur de la Banque de Schangnau et Le Locle, 10 Rue Pestalozzi, Yverdon‹, und, froh unterzukommen, ein Zimmer mit Bad genommen. Zum letztenmal, wir kennen diesen seinen Vorsatz schon.
    Das Zimmer würde zwanzig kosten, rechnete er, das war das mindeste, denn er hatte ein Doppelzimmer nehmen müssen. Er konnte kaum erwarten, unter fünfundzwanzig davonzukommen, auch wenn er nicht frühstückte, so daß die geringe Chance, diese böse Geschichte doch noch heil zu bestehen, indem man sich so schnell als möglich aus dem Staube machte, durch einige wenige fehlende Franken in Frage gestellt wurde.
    Später dachte er, im warmen Wasser und angesichts seines nackten Leibes, an die Engländerin, die er im christlichen Hospiz wieder getroffen hatte. Er konnte keinen zwingenden Grund mehr angeben, der dieser Bekanntschaft hätte einen 13

    Sinn geben können, keine Leidenschaft vermochte er aufzuweisen, keine Liebe, nicht einmal Begierde, nur aus Laune, aus einem Gespräch im Speisewagen, den Vierwaldstätter See vor Augen, waren diese gleichgültigen Nächte in gleichgültigen Hotelzimmern entstanden, wohl weil er sich langweilte. Nun lag er im Bad, in einem Raum, den er nicht bezahlen konnte, und wartete auf die Polizei. Draußen ein demolierter Turm, ein in die Luft gesprengtes Heimatmuseum, ein aufgebrachtes Städtchen. Es war wie in einem schlimmen Märchen. Alles war miteinander verknüpft, eines bedingte das andere. Aus lauter Zufälligkeiten, aus einer unnötigen Liebesnacht, aus einem nachlässigen Verlassen des Zugs, aus einer rätselhaften Verwechslung war ein Ereignis entstanden, das sinnlos war, hatte er eine Tat begangen, die er nie hatte begehen wollen, die zu begehen er nie für möglich gehalten hätte, die jedoch wie keine andere den Unsinn seines Lebens aufdeckte.
    Er beschloß, da die Polizei immer noch nicht erschien, doch zu frühstücken, und, sollte wunderbarerweise niemand auf seine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher