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Aufenthalt in einer kleinen Stadt

Aufenthalt in einer kleinen Stadt

Titel: Aufenthalt in einer kleinen Stadt
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Coiffeur, da müsse schon eine Königin oder der Papst sterben, um so einen Nachrichtenspre-16

    cher in Rührung zu bringen; doch wurde er zum Glück unter-brochen. Durch erneutes Geklingel von der Türe her.
    Der neue Kunde (ein stattlicher Mann mit weißem Schnurr-bart, wie de Schangnau im Spiegel bemerkte) setzte sich auf einen der Stühle unter den Zeitungen, nahm die ›Schweizer Illustrierte‹ in die Hand und wurde vom Coiffeur in seiner überhöflichen Art als Metzgermeister Ziel begrüßt.
    »Guten Morgen, Künzi«, lachte der Metzger, »laßest dir den Bart abnehmen, hast es auch nötig, wenn dir deine Türme, hops, in den Himmel springen«, und wie der Stadtbaumeister immer noch schwieg, wohl verletzt von den Grobheiten des Metzgers, lachte der, die Himmelfahrt des großen Stöpsels scheine Künzi die Sprache verschlagen zu haben.
    »Und Ihnen das Trompetenblasen, Herr Ziel«, kam der Coiffeur dem Stadtbaumeister zu Hilfe und setzte das Messer an die linke Wange des Bankiers (die rechte hatte er schon bear-beitet).
    »Bei meiner Seele, da hast du recht, Haarschneider«, sagte Ziel und steckte sich einen Stumpen in Brand, »da blies ich gestern im Umzug zu Ehren unserer hundertjährigen Frau Trudi Meier-Hühnlein-Schär-Hofer, deren zweiter Mann, der Hühnlein, vor sechzig Jahren Stadtpräsident gewesen ist – ihr erster, der Schär, war Apotheker, und ihr dritter, der Pfarrer Meier, ist ja nun auch vierzig Jahre tot, aber er hat mich noch konfirmiert – da blies ich gestern ›Näher mein Gott zu Dir‹ aus allen Leibeskräften, was sich das Geburtstagskind so wünschte, und plötzlich geht vor meiner Nase der große Stöpsel in die Luft, daß es eine wahre Pracht ist, und nicht nur vor meiner Nase, sondern auch vor unserer Feuerwehr, die teils mitblies, teils im Umzug marschierte, denn der Apotheker war auch Feuerwehrkommandant. Für mich ist es ein erhabener Augenblick gewesen, ich will da ehrlich sein, so etwas wie eine großartige Predigt von der Vergänglichkeit aller großen Stöpsel, jedenfalls, wenn die Pfarrer auch so zu predigen 17

    verstünden, ginge ich auch in die Kirche und dies jeden Sonn-tag; aber die Hundertjährige muß einen ordentlichen Schrek-ken bekommen haben ob dem schwefelgelben Blitz und dem Krachen, es war wie zu Sodom und Gomorrhas Zeiten, und sie wohnt nicht weit vom Stöpsel.«
    Frau Meier-Hühnlein sei schwerhörig, versicherte der Coiffeur (nun mit der linken Wange des Bankiers zu Ende).
    Das sei ein Glück für die alte Dame, beruhigte sich Herr Ziel, mit dem Weiterblasen sei es natürlich nichts gewesen, der Umzug habe zur Feuerwache rennen müssen, die Geräte und die Feuerspritze zu holen, doch habe man den Turm nicht retten können, ja, Mühe gehabt, das Feuer von den anliegenden Häusern fernzuhalten, eines sei halb eingestürzt, und es sei ein Wunder, daß man sich heute hier rasieren lassen könne, denn auch das Haus des Coiffeurs sei in Gefahr gewesen. Er sei nur neugierig, was denn nun die Kommission aus Bern, die noch diese Nacht angekommen sei, für Ursachen finden werde; was Gescheites sicher nicht.
    Der Stöpsel sei in die Luft gesprengt worden, regelrecht und kunstvoll, behauptete der Coiffeur, das sei ihm klar. Nicht umsonst habe sich die Explosion zwei Tage vor der Fünfhun-dertjahrfeier der Bollenschlacht ereignet, vor einem der wich-tigsten Daten der heimatlichen Geschichte, zwei Tage vor dem großen Umzug und dem Besuch der Bundesräte Etter, Feld-mann und Petitpierre. Als Täter kämen nur die Kommunisten und die Freimaurer in Frage, dies sei logisch, doch von denen schieden die Moskauer aus, weil sie schwach seien und Stimmen nötig hätten, der Stöpsel sei populär, da würden sie es nicht wagen, ihre roten Finger daranzulegen. »Aber die Freimaurer«, rief er aus, »die sind stark, die können sich einen solchen Frevel leisten. Sie werden sehen, meine Herren, die Kommission aus Bern wird nichts finden, und wenn sie zehn-mal die besten Detektive der Welt hätte, weil sie nichts finden darf. Aber der Kerl, der das Wahrzeichen unserer Stadt zerstör-18

    te, würde etwas erleben, wenn ich ihn unter mein Messer bekäme!« und energisch schabte er an de Schangnaus Kehle herum, der Heimat zuliebe sei er noch durchaus zu einem Mord fähig, wie der Wilhelm Tell, der Arnold von Winkelried und die anderen alten Schweizer.
    Er solle doch aufpassen, begehrte de Schangnau auf, etwas kleinlaut, da nun wirklich Blut floß, und ihm mit einemmal das unangenehme
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