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Der Schmetterlingsbaum

Der Schmetterlingsbaum

Titel: Der Schmetterlingsbaum
Autoren: Jane Urquhart
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an sie hätte trauen können. Seine Schwester, meine Mutter, ist noch da, aber nach den vielen Jahren hat sie nicht mehr viel Ähnlichkeit mit der Frau, die er gekannt hat. Und dann ich. Und die Farm – die existiert ja kaum noch.
    Bis auf das Haus, in dem jetzt ich wohne.
    In diesem letzten Sommer vor vielen Jahren, als wir noch zahlreich waren und die Tage langsam durch den Kalender wanderten, mehr oder weniger wie immer, da war mir die Farm meines Onkels noch so sicher und unanfechtbar erschienen wie ein altehrwürdiges Reich – er, der berühmte Obstzüchter vom Eriesee, der Landwirtschaftskönig vom ältesten Teil des südwestlichen Ontario, seinem Herrschaftsgebiet, an dem er uns hier am Esstisch oder beim Lagerfeuer am Strand in Form seines Wissens- und Geschichtenschatzes regelmäßig teilhaben ließ. Sogar heute, wenn ich an einem Sommermorgen aufwache und auf die zwei letzten Wiesen hinausblicke, die von Baumstümpfen, abgebrochenen Zweigen und Seidenpflanzengewächsen übersät sind, erschrecke ich über den verwilderten Zustand der Plantagen, und im ersten Moment macht es mich stutzig, dass niemand auf den Feldern und mit den Bäumen beschäftigt ist, keine Vorfahren und keine Mexikaner – obwohl der Betrieb, wie gesagt, schon seit geraumer Zeit stillgelegt ist.
    Mit Obstplantagen kenne ich mich heute besser aus als früher. Als die Sommercousine wurde ich ja nicht hineingeboren, wie Mandy. Mandy hätte schon als Zehnjährige mit verbundenen Augen einen Korb Früchte sortieren können: die reifsten ganz oben, die zu früh geernteten als Bodenschicht. Ich sah ihr immer gern zu, wie sie mit flinken Fingern, eine kleine Sorgenfalte auf ihrer glatten Stirn, die Festigkeit oder Weichheit jeder Frucht prüfte. Später erschien sie mir beim Äpfel- oder Birnensortieren eher wie ein professioneller Croupier, der die Karten für Black Jack austeilt. Aber als wir Kinder waren, empfand ich diese raschen, sicheren Gesten als ein magisches Talent, und das beifällige Nicken meines Onkels, wenn sie mit ihrer Aufgabe fertig war, machte es noch magischer. Mandy konnte auch auf Bäume klettern und Kirschen in den wartenden Schoß einer Planenschürze herunterschütteln, während ich am Boden bleiben und die wenigen Früchte einsammeln musste, die ins Gras gerollt waren. Nicht, dass man uns Kindern offizielle Arbeiten aufgetragen hätte, wie es bei Teo der Fall war. Teo der Pflücker. Er war wirklich ein scharfer Konkurrent für Mandy, wie er so ganz auf seine Arbeit konzentriert seine kleinen braunen Hände über den Boden huschen ließ.
    Erdbeeren, Kirschen, Pfirsiche, Birnen, Tomaten, Äpfel: Das war der Rhythmus des Reifens, in Gang gesetzt von meinem Ururgroßvater, als die Farm noch ein Mischbetrieb gewesen war, dann verbessert von meinem Urgroßvater und perfektioniert von meinem Großvater, dem ersten Spezialisten unter den Obstbauern, der von seinen Plantagen besessen war; die Viehwirtschaft und den Ackerbau gab er auf, als wären sie nur Beiwerk gewesen und für seine Vorfahren nicht Rettung vor dem sicheren Hungertod.
    Ach, diese Vorfahren mit ihren langen Schatten und langen Geschichten! Als Teenager wechselten Mandy und ich spöttische Blicke, wenn mein Onkel wieder mit »den Sagas« anfing, wie wir sie nannten, diesen Geschichten, in denen er das jeweilige Familienoberhaupt pauschal als »Alten Urur« bezeichnete, statt sich mathematisch durch die Generationen zurückzuarbeiten. Ohnehin schienen alle früheren Butler-Männer Abgüsse ein und desselben Prototyps gewesen zu sein: eigensinnig, verstockt, mit einer Neigung zu brachialen Heldentaten unter den widrigsten Umständen, Regentschaft um Regentschaft. Gebieter über beeindruckende Körperkräfte, erzielten sie glorreiche Erfolge und fielen spektakulären Pleiten zum Opfer. Auf den alten Fotos ähnelten die Urure mit ihren weißen Vollbärten und strengen Mienen den furchterregenden alttestamentlichen Gestalten von den Illustrationen in der Familienbibel – vielleicht sogar Jahwe selbst. Wissen Sie, die Religion hat auch in unserer Familie durchaus einmal eine Rolle gespielt, aber es war eine unversöhnliche Religion, die mit dem Fortschreiten der Generationen immer weniger maßgeblich wurde, während alles, was sie nicht verzeihen wollte, an Bedeutung gewann.
    In unseren frühen Teenagerjahren standen Mandy und ich einander am nächsten. Wir konnten uns mit Blicken verständigen und neigten zu unbändigen Lachanfällen in den unpassendsten Momenten.
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