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Der Sang der Sakije

Titel: Der Sang der Sakije
Autoren: Willi Seidel
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erlosch. Nur der Teppich schien zu wachsen. Er füllte den Horizont; seine Muster wucherten in die Ferne, seine Farben durchtränkten glühend den Umkreis. Und er war ganz und gar von weißen Papierstückchen gesprenkelt ...
    Und auf ihm entstand eine Gestalt ... Eine ganz helle Gestalt. Sie kam verwischt heran. Auf einmal,wie mit einem Sprung, stand sie vor dem farbigen Wirrwarr, der sich schwärzte und ihr eine abscheidende Folie gab. Es war ein magerer, weißer Knabe. Seine Augen waren schauderhaft leer und grau; sie wuchsen im Gesicht, wenn man in sie hineinsah, und verschmolzen zu einer einzigen, tödlich nichtssagenden Masse, die doch aus zwei Augen bestehen blieb ...
    Und darunter, scheinbar in ihnen, auf ihrem Grund, spalteten sich farblose Lippen und schürzten sich über zusammengepreßten Zähnen. Die Lippen liefen in spitze Winkel aus ...
    Und die Gestalt gewann an Deutlichkeit. Sie bewegte den verschwommenen Kopf; die Lippen lächelten dünn, scharf und unsagbar höhnisch. Die Gestalt stand mit durchgedrückten Knien, streng geschlossenen Beinen und knochigen Hüften da. Sie stemmte die Hände in die Weichen; aus ihrem kleinen Mund brach etwas Gellendes, Scharfes hervor wie eine Folge von Peitschenschlägen ...
    Hassan fühlte Striemen an seinem Körper entbrennen; rote Male, die durch seine Kleidung leuchteten ...
    Und die Gestalt wuchs, versteinerte sich gleichsam zu einem unverrückbaren Monument. Sie hielt eine Gerte in der Hand, mit der sie tändelte. Ein Hauch von Eis, ein kalter, frostiger Hauch ging von ihr aus, als werde man plötzlich einem warmen Bad entrissen und heftigem Winde preisgegeben ...Hassans Körper brannte vom Frost und zugleich von der Hitze der Striemen ...
    Und siehe da, die Gestalt wandelte sich. Percy Aldridge stand dort.
    Er trug einen weißen Leinenanzug. Er war groß und hielt sich sehr gerade. Auf der Lippe trug er blonden Flaum.
    Er hielt die Hände unter den aufgeschlagenen Schößen des Jacketts in den Hosentaschen. Er besah besinnlich seine Schuhe.
    Und plötzlich warf er den Kopf in den Nacken und sagte etwas.
    »Wie belieben Sie?« fragte der Bei und fühlte seine Brauen vor nervöser Spannung zittern und in die Höhe kriechen ...
    »Halten Sie Ihren Tarbusch fest!«
    Ein leises Wutgeheul, wie das eines fernen Schakals, vibrierte irgendwo. Dem Bei schien es, es sei in ihm selber angeklungen; er verlegte sich aufs Lauschen, und es erleichterte ihn ...
    Nun hörte er es lauter und schärfer: »Halten Sie Ihren Tarbusch fest!«
    Hassan atmete schwer und keuchend. »Halten Sie ihn fest!« schrie jetzt die Stimme brutal wie eine Posaune. »Er lockert sich .. Er lockert sich .. Halten Sie ihn fest!!«
    Ein wüstes Chaos von Tönen: schnarrenden, quinquilierenden, rasselnden Instrumenten.
    Dann Totenstille. – – – –Eine Erschöpfung folgte. – – – –
    »Oh, dem ist abzuhelfen«, sagte plötzlich jemand auf französisch, mit einer hellen, kalten Betonung.
    »Ah! Madame! Ich bin in Ihrer Hand. Ja, was ist nun zu tun?«
    Die Seijide kam zum Vorschein; sie schwebte lautlos heran; und zuweilen knirschte die schwere Seide ihres Gewandes. Sie war erstaunlich, schier zwerghaft klein. Sie brachte ihr Gesicht ganz nahe an das seine und flüsterte beziehungsvoll:
    »Er ist Kontrolleur beim Irrigation-Departement?«
    »Ja, ja, das ist er«, flüsterte Hassan fast ebenso heimlich zurück.
    »Ich weiß etwas über ihn!« kicherte die Seijide. »Ich weiß etwas über ihn ...«
    »Ha! Was wissen Sie?«
    »Er nimmt Backschisch!«
    »Von wem, Madame, und wofür?«
    »Was weiß ich!«
    »Ich beschwöre Sie, Madame ...«
    »Nun, vielleicht von den Bauern ...«
    »Backschisch von diesen Schweinen! Welch eine Besudelung! – Wofür nimmt er es denn?«
    »Sie überfragen mich!«
    »Ich beschwöre Sie ...«
    »Nun, vielleicht öffnet er ihnen die Kanäle ... Zur verbotenen Zeit ...«
    »Sehr gut!« sagte Hassan und war tief befriedigt. »Sehr gut!«Auf einmal war er in einer sonnigen stillen Straße der Gardencity. Die Seijide schritt vor ihm her, tief verschleiert.
    »Wohin führen Sie mich, Madame?«
    Sie schwieg und ging eilig voran.
    Wiewohl die Sonne im Zenith stand, war der Verkehr auf der Straße äußerst schwach. Dann und wann sah er Menschen, aber sie gingen alle seltsam fern und schnell an ihm vorbei; rückten gleichsam hinweg, wenn er ihnen mit den Blicken folgte, um, an die Straßenenden verpflanzt, in eben dem Zeitmaß weiterzuschreiten, das er zuerst an ihnen bemerkt.
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