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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989
Autoren: Walter Kempowski
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Januar 1989

Nartum
So 1. Januar 1989, Neujahr
    Welt am Sonntag: Berichte über Stalin-Terror: 30 Millionen/ Angehöriger eines Erschießungskommandos:«Die Männer schwiegen, die Frauen weinten.»
    Sonntag: Die Rote Fahne - Geschichte eines Revolutionsblattes
     
    8 Uhr. T: Kann mein 1.- Klasse- Abteil nicht finden, und die FAZ ist ausverkauft.
     
    1989: Ein großes Gedächtnisjahr hebt die Röcke und möchte begattet werden: Vor 50 Jahren Kriegsanfang, 40 Jahre Bundesrepublik und DDR. - Und ich werde 60! Vor 20 Jahren mein erstes Buch.
    Das 200jährige Jubiläum der Französischen Revolution. Nietzsche nennt sie eine pathetische und blutige Quacksalberei. Ich bin gegen Revolutionen. Was geht in solchen Umbruchjahren nicht alles kaputt! Mal ganz abgesehen von den vielen Toten! In den ersten 16 Monaten nach der Oktoberrevolution wurden 16 000 Menschen erschossen.
    Man denke auch an die«nationale Revolution»der Nazis. Dieses säkuläre Abschlachten …
    Das Umschalten auf eine neue Jahreszahl interessiert mich nicht sehr, das ist wie beim Tachometer. Das Umspringen auf das neue Jahrtausend wäre schon interessanter, das regt zu allerhand Vergleichen und Gedanken an.
    Im übrigen hat jeder Mensch seine eigene Zeitrechnung. Für mich sind u. a. die Jahre’42,’48 und’56 von Bedeutung.
    Über Weihnachten nahm ich meine kleine Orgel wieder in Betrieb. Leider funktioniert das Pedal nicht. Heute spielte ich nach
alter Sitte den schönen Choral«Nun laßt uns gehn und treten …»in der Bachschen Version.
    Ich legte mir das Gesangbuch daneben und sang den Text von Paul Gerhardt aus dem Jahre 1653, alle 15 Strophen.
    Sein Lebtag hat man damit zu tun, sich von dem Mann mit dem Bart zu lösen. Die Calvinisten wußten schon, weshalb sie die Bilder in den Kirchen abschafften. Gott ist Geist, wir sind die Seinen …
     
    Dieses Wetter ist ja nun wirklich durchwachsen. Schon seit Wochen grauer Himmel ohne einen Sonnenstrahl und dann dieser Regen,«nieselnd». Nicht einmal zu einem anständigen Kap Hoorn reicht es. Nieseln, das ist es. Bei ein wenig Glück wäre aus der Nieselei ein sanfter Watte-Schneefall geworden.
    «Könnte es nun nicht schneien?»pflegte meine Mutter zu sagen. Das Gerede von früher. Daß es da mehr Schnee gegeben habe. Und in der Tat, mir ist auch so.
    Mit Jürgen Kolbe sprach ich im Oktober über«Das Echolot», mein nächstes Großprojekt. Er bezeichnete das als Archäologie . Meine Vorstellung von preiswertem Papier und von französischer Broschur fand er gut, den Untertitel:«Ein kollektives Tagebuch»weniger. Einen Arbeitsvorschuß will er zahlen. Wir fuhren im Auto über den Stachus, als wir darüber redeten, und die Ampel zeigte Rot. War das ein schlimmes Vorzeichen?
    Rückblick auf 1988: Die«Hundstage», 90 Lesungen, allerlei Seminare und die Reise in die USA. Anschaffung des Computers und Kiellegung des«Echolot».
    Zu«Hundstage»: Der Verlag freue sich über das Buch, wurde gesagt. Es werde jedoch von geschlechtsbewußten Buchhändlerinnen sabotiert.
    Im April begann ich mit M/B 1 und mit dem«Sirius». Letzteres Vorhaben wurde, wie das«Echolot», durch den neuen Computer angeregt.

    Kurzer Spaziergang bei flammendem Sonnenuntergang.
    In der Nacht stand ich auf und ging nach unten, um mich etwas zu bewegen. Ich saß zwei Stunden in der Bibliothek und sah nach draußen. Schnee hastete über die Gartenlampe wie Rauch im Wind, ein seltener Anblick, er verwandelt meine Depression in so etwas wie ein Dankgebet.
    Prokofjew: Flötensonate. Unerklärlich grauenhaft.

Nartum
Mo 2. Januar 1989
    Bild-Zeitung: Silvester-Schiff gesunken/100 Tote?/Deutsche an Bord
    Neues Deutschland: Gute Arbeitsergebnisse während der ersten Schichten am Neujahrstag
     
    Im Literatur-Seminar war ich hinter«Plankton»her: den winzigen Erinnerungsbildern, die unablässig in den Ganglien hin-und herschießen. Man kann sie mit Reizwörtern einzeln abrufen. Kleine autonome Texte, die im günstigen Fall von hoher literarischer Qualität sind. Ich habe schon eine hübsche kleine Sammlung beisammen.
    Ein warmer Lattenzaun, der das Grundstück meiner Großmutter umfriedete, und dahinter schwarze und rote Johannisbeeren. Der Zaun war warm, weil die Sonne darauf schien.
    Ins-Bett-Geh-Bummelei. Dies noch, das noch. Die Jacken der letzten Woche weghängen, Hosen auf Bügelfalte, in speziellen Klemmbügeln. Dann ausgiebig duschen und in das von der Ehe-Lebensfreundin aufgeschüttelte Bett legen. Ah! - Sie war gut gelaunt heute, die
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