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Der Ruf des Kookaburra

Der Ruf des Kookaburra

Titel: Der Ruf des Kookaburra
Autoren: Julie Leuze
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richtete sich zu seiner vollen Größe auf, und Emma wich einen Schritt zurück. Der law man war ein sehniger Mann mit kriegerischem Gesichtsausdruck, in dessen Nasenscheidewand ein weiß bemalter Knochen steckte. Emma war schon des Öfteren mit ihm aneinandergeraten; aus Erfahrung wusste sie, dass mit Dayindi nicht gut Kirschen essen war, wenn man sich ihm widersetzte.
    »Ihr brecht das Gesetz der Ahnen, wenn ihr verhindert, dass wir das Ritual zu Ende bringen«, herrschte er sie an. »Ihr habt es sogar schon gebrochen, indem ihr uns beobachtet habt! Ich sollte den Knochen auf euch richten!«
    Yileen und die anderen Männer begannen aufgeregt zu murmeln. Selbst Birrinbirrin setzte sich erschrocken auf.
    »Tu das nicht, Dayindi!«, beschwor Yileen den law man. »Sie sind keine von uns, sie wissen nicht, was sie verbrochen haben. Sie müssen noch so viel lernen!«
    »Dann sollten sie schleunigst damit anfangen«, knurrte Dayindi und schoss einen weiteren bösen Blick in ihre Richtung.
    »Lass uns gehen, wir haben sie schon genug verärgert«, sagte Carl leise zu Emma. »Birrinbirrin will unsere Hilfe nicht. Wir sind hier fehl am Platze.«
    »Aber …«
    »Nichts aber«, schnitt Carl ihr mit ungewohnter Schärfe das Wort ab. Er nahm sie bei der Hand und wollte sie mit sich fortziehen.
    Doch nach ein paar Schritten riss Emma sich los.
    Mit festem Schritt ging sie zurück in die Höhle. Oh nein, sie würde sich ihrer menschlichen Verantwortung nicht entziehen! Nicht in dem sicheren Wissen, dass die Männer mit ihren Feuerstöcken weiterhin Birrinbirrins Brust malträtieren würden. Wer wusste schon, ob alles gut gehen würde? Vielleicht würden die Wunden sich später entzünden, vielleicht würde der Junge daran sterben … und das sollte sie zulassen?
    Zwar war sie Forscherin und als solche dazu angehalten, einen neutralen Beobachterinnenstatus einzunehmen. Aber, bei Gott, sie war auch ein Mensch mit einem gesunden Verstand, einem mitfühlenden Herzen und einem äußerst aktiven Gewissen.
    Deshalb suchte sie nun mit den Augen das Einverständnis Birrinbirrins. Wenn er selbst ihr unmissverständlich bedeutete, dass sie gehen solle, dann, sagte Emma sich, würde sie dem Befehl der Männer Folge leisten.
    Nur dann.
    »Geht«, stieß Birrinbirrin hervor. »Lasst es uns endlich zu Ende bringen!«
    Emma sog scharf die Luft ein.
    Dann nickte sie knapp, drehte sich um und verließ die Höhle.
    Den restlichen Heimweg über schwieg sie.
    Sie hatte das Gefühl, verloren zu haben, auch wenn sie nicht genau hätte sagen können, welchen Kampf. Sie hatte doch nur so gehandelt, wie ihr Gewissen es ihr eingegeben hatte! Konnte das denn falsch sein?
    Sosehr Emma auch darüber grübelte, ob sie sich richtig verhalten hatte oder ob ihre Einmischung in das uralte Ritual ein unverzeihlicher Frevel gewesen war, kam sie doch zu keinem Ergebnis. Sie ahnte, dass ihr Gewissen in der Welt des Clans, wo völlig andere Regeln galten als in der vertrauten Welt der Weißen, kein zuverlässiger Ratgeber mehr war.
    Wenn ich nicht einmal mehr auf mein Herz hören darf, dachte sie aufgebracht, worauf denn dann?
    Verdrossen stapfte sie neben Carl in Richtung Lager. Trotz aller guten Absichten hatte sie wohl nur Schlechtes bewirkt. Sie hatte Birrinbirrins Angst und Qual, die zu ertragen er fest entschlossen gewesen war, nicht gelindert, sondern unnötig verlängert.
    »Wir sollten mit dem Schamanen sprechen«, drang Carls Stimme in ihre düsteren Gedanken. »Nicht dass diese Sache noch ein böses Nachspiel hat.«
    Emmas Gewissen zwickte noch stärker. »Wir haben lediglich getan, was das Mitgefühl gebietet«, verteidigte sie sich trotzig.
    »Mag sein.« Carl blieb stehen und sah sie eindringlich an. »Aber das sehen die Schwarzen anders. Emma, Dayindi wollte sogar den Knochen auf uns richten!«
    Diese Drohung hatte Emma schon vorhin nicht verstanden. »Und?«, fragte sie. »Was ist daran so schlimm?«
    Carl steckte die Hände in die Hosentaschen und musterte sie. »Weißt du das wirklich nicht?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Es ist ein Todesurteil«, sagte Carl. »Die Eingeborenen sind überzeugt davon, dass ein Mensch, auf den der Knochen gerichtet wird, innerhalb kürzester Zeit sterben muss.«
    »Oh«, meinte Emma schwach.
    »Und auch wenn ich sicher bin, dass diese Strafe nur funktioniert, wenn man fest daran glaubt«, fuhr Carl ernst fort, »sollte ihre Androhung uns zumindest eine Warnung sein.«
    Emma brauchte einen Moment, bis sie antworten
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