Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
Vom Netzwerk:
Prolog
    Alcântara
    Praça do Pelourinho.
    Fickerisch wohnet der Mensch! Raah! Fickerisch wohnet der Mensch!«, krächzte Heideggers schrille, näselnde, wie von Wein trunkene Stimme.
    Eléazard von Wogau blickte von seiner Lektüre auf. Jetzt reichte es ihm; er drehte sich auf seinem Stuhl halb nach hinten, griff das erstbeste Buch in seiner Reichweite und schleuderte es mit voller Kraft nach dem Tier. Am anderen Ende des Raumes gab es ein kraftvolles, vielfarbig buntes Geflatter, der Papagei stob von seiner Stange auf, eben hoch genug, um dem Geschoss auszuweichen. So landeten die
Studia Kircheriana
des Pater Reilly etwas weiter auf einem Tisch und warfen eine halbvolle Flasche Cachaça um, die da stand. Sie zerschellte, und das aus dem Einband brechende Buch sog sich mit Schnaps voll.
    »Verfluchte Scheiße!«, schimpfte Eléazard.
    Er zögerte kurz, ob er aufstehen und sein Buch retten sollte, begegnete dem Sartre’schen Blick des großen Aras, der so tat, als suchte er irren Auges mit absurd verdrehtem Kopf etwas in seinem Gefieder, doch dann wandte sich Eléazard lieber wieder Caspar Schotts Text zu.
    Es war wirklich kaum zu glauben, dass man immer noch derartige Trouvaillen machen konnte: ein nie veröffentlichtes, kürzlich bei einer Bestandsaufnahme in der Biblioteca Nazionale di Palermo aufgetauchtes Manuskript. Der amtierende Konservator hatte dessen Inhalt nur eben eines kurzen Artikels in der Vierteljahresschrift seiner Bibliothek für würdig befunden, dazu einer Nachricht an den Leiter des örtlichen Goethe-Instituts. Es hatte einer begnadeten Reihe von Zufällen bedurft, damit eine Fotokopie dieser Handschrift – die von einem obskuren deutschen Jesuiten auf Französisch verfasste Biographie eines nicht weniger vergessenen anderen Jesuiten – nach Brasilien auf Eléazards Schreibtisch gelangt war. In einem jähen Anfall von Tatendrang hatte der Leiter des Goethe-Instituts es auf sich genommen, die Sache Werner Künzel zu schildern, einem Berliner, der seit einigen Jahren an einer Theorie zur Informatik werkelte, welcher zufolge die binäre Sprache der Computer in der Llull’schen Scholastik und in deren späteren Varianten wurzelte, namentlich der des Athanasius Kircher. Stets schnell begeistert, empfahl Werner Künzel das Manuskript sogleich dem Thomas-Sessler-Verlag zur Veröffentlichung. Die Kosten einer Übersetzung scheuend, entschloss der Verleger sich zu einem in kleiner Auflage produzierten Faksimile und wandte sich auf Anraten Werners an Eléazard, um ihn mit der Herausgabe des Textes und dem Verfassen des Kommentars zu betrauen.
    ›Verfluchter Werner!‹, dachte Eléazard, unwillkürlich lächelnd, ›wenn der wüsste …‹
    Er hatte ihn seit ihrer bereits in nebelhafter Ferne liegenden Begegnung in Heidelberg nicht wiedergesehen, erinnerte sich jedoch haargenau an das Frettchengesicht und an den nervösen Tick, durch den ein Kaumuskel an seiner Wange fortwährend in einer obszönen Zuckung schwoll. Das verriet eine unterdrückte Spannung, die sich vielleicht jederzeit heftig zu entladen drohte, so sehr, dass Eléazard bisweilen vergaß, was er selbst gerade sagte; eine Wirkung, die sein Gesprächspartner möglicherweise sogar mehr oder weniger bewusst erzielen wollte. Sie pflegten seither losen schriftlichen Kontakt, seinerseits einen eher förmlichen; Werner hatte nie mehr als eine Postkarte, höchstens zwei, als Antwort auf seine langen Briefe erhalten, in denen er sein Leben und seine Erfolge detailliert schilderte. Nein, er konnte tatsächlich nicht wissen, wie sehr Eléazards Leben sich gewandelt hatte, noch dank welcher Mittel er sich wieder seinen alten Vorlieben widmen konnte. Er kannte das Werk Kirchers wohl besser als sonst jemand – fünfzehn Jahre in Gesellschaft eines schillernden Unbekannten pflegen einem für gewöhnlich ein solches nutzloses Privileg zu bescheren –, doch wusste Werner nicht, wie weit er sich im Lauf der Zeit von seinen in jungen Jahren gehegten Ambitionen entfernt hatte. Diese Theorie, an der Werner in Heidelberg arbeitete, hatte Eléazard schon längst ins Hinterstübchen seines Geistes verbannt, obzwar er ihren Schatten von Zeit zu Zeit heraufbeschwor, den einzigen Antrieb zu einer Obsession, die doch immer wieder Überraschungen zutage förderte. Dennoch, man musste sich den Tatsachen beugen: Manch einer, der seit langem das Trinken oder Rauchen aufgegeben hatte, sammelte Whiskyflaschen oder Zigarrettenschachteln; er für seinen Teil trug
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher