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Der Ruf des Bösen: Die Erleuchtete 2 - Roman (German Edition)

Der Ruf des Bösen: Die Erleuchtete 2 - Roman (German Edition)

Titel: Der Ruf des Bösen: Die Erleuchtete 2 - Roman (German Edition)
Autoren: Aimee Agresti
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meinen Rucksack und holte dann meine neue Ausgabe von Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr Hyde hervor, die ich mir für den Fortgeschrittenenkurs in englischer Literatur zugelegt hatte und jetzt noch einmal zu meinem privaten Vergnügen lesen wollte.
    Das Flugzeug änderte die Richtung, und ich hatte plötzlich Druck auf den Ohren, als wir so den Himmel durchpflügten. Dante schnarchte laut auf und legte seinen Kopf auf meiner Schulter zurecht. Ich schaute zu Lance hinüber, um zu sehen, ob er es vielleicht auch gehört hatte und wir gemeinsam darüber lachen konnten, doch auch dem fielen gerade die Augen zu. Seine Brille rutschte ein wenig tiefer, so dass man jetzt ganz deutlich die Narbe neben seinem Auge sehen konnte. Am Handgelenk trug er eine Ledermanschette mit einem Engelsflügel, der dem an meiner Halskette glich. Ich umschloss den Anhänger mit den Fingern, so als könnte ich so zum Abschlussball zurückkehren. An jenem Abend hatten wir gemeinsam Dinge erlebt, die uns in den Grundfesten erschüttert hatten, und wir wären dabei beinahe draufgegangen. So begannen sicher nicht viele Beziehungen. Und dieser Abend hatte uns verändert. Wir waren gezeichnet – hatten nicht nur auf den Schulterblättern Narben, die darauf warteten, dass wir dort irgendwann Flügel tragen würden. Ich meinte nicht ausschließlich die drei Striemen über meinem Herzen, den Schnitt an Lance’ Auge oder Dantes Arm. Auch innerlich waren wir gezeichnet. Wie sollte es nach allem, was wir erlebt hatten, auch anders sein?
    Seit jenem Tag waren wir unzertrennlich. In unserer kleinen Engel-Selbsthilfegruppe war uns die Nähe einfach wichtig, es war tröstlich zu wissen, dass uns jemand verstand. Im Moment steckten wir in einer Art Fegefeuer, einer Vorhölle, in der wir ständig auf der Hut sein mussten, während wir auf die nächste Aufgabe warteten. Den ganzen Sommer über waren wir nervös und unruhig gewesen. Wir hatten oft das Lexington besucht. Und wir hatten nach Wegen gesucht, um in Form zu bleiben: Nach den Ferienkursen hatten wir oft stundenlang Runden um den Sportplatz gedreht. Außerdem hatten Lance und Dante manchmal bei mir im Krankenhaus vorbeigeschaut und mir dabei geholfen, schwere Kisten mit Material zu entladen und zu schleppen.
    Als es mit der Schule wieder losging, stürzten wir uns wie besessen in die Arbeit. Wir waren eben keine typischen Sechzehnjährigen. Ich wusste immer noch nicht, wie ich auch nur eine halbwegs normale Beziehung mit Lance führen sollte. Manchmal befürchtete ich, dass ich vielleicht einfach nur ein Adrenalinjunkie war und am besten funktionierte, wenn man mir mit dem unmittelbaren Tod drohte. Das alles ging mir durch den Kopf, als ich mich an Lance’ Schulter lehnte und langsam wegdöste. Ich wachte erst wieder auf, als die Stimme des Piloten sich in mein Unterbewusstsein schlich und ich bei einem schläfrigen Blick aus dem Fenster feststellte, dass wir mit dem Landeanflug begonnen hatten.
    Das Taxi schob sich durch Straßen voller Menschen, die an diesem sonnigen Nachmittag mitten unter der Woche in Feierlaune an Drinks nippten. Ketten mit lilafarbenen, grünen und goldenen Perlen hingen um ihren Hals. Beschwingte Jazzmusik mit dominanter Trompete ertönte aus jeder Kneipe, an der wir vorbeikamen. Es war genau so, wie ich mir New Orleans vorgestellt hatte, aber auf die Hitze war ich nicht vorbereitet gewesen. In der dicken, feuchten Luft, die süßlich roch und sich klebrig anfühlte, fiel uns das Atmen schwer, seit wir das Flughafengebäude verlassen hatten. Als wir endlich den Fahrer gefunden hatten, der uns abholte, hatte ich längst meinen Pulli ausgezogen und stand im T-Shirt da. Ich hoffte nur, dass ich genug Sommerklamotten eingepackt hatte.
    »Keine Angst, heute ist es selbst für unsere Verhältnisse warm. Das liegt nicht nur an euch Nordlichtern«, erklärte der Fahrer, ein Mittzwanziger, dessen gebräunte Haut verriet, dass er offensichtlich hier aus der Gegend kam. Seinen näselnden, trällernden Tonfall fand ich so angenehm, dass ich fast fürchtete, ich könnte zu den Leuten gehören, die im Urlaub unbewusst den Akzent der Ortsansässigen aufschnappten und dann zurück zu Hause völlig albern klangen.
    »Entschuldigung, Sir, wo kann man denn hier gut einkaufen?« Dante dachte mal wieder voraus. Lance hingegen war damit beschäftigt, seine beschlagenen Brillengläser mit einem T-Shirt-Zipfel zu putzen.
    »In der Canals Street, der Magazine Street, eigentlich im ganzen Quarter.
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