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Der Reisende

Der Reisende

Titel: Der Reisende
Autoren: Orson Scott Card
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kommt’s, daß Ihr wie ein Waldläufer redet?«
    »Hab viel Zeit an der Grenze verbracht.«
    »Ich hab viel Zeit im Hühnerstall verbracht, aber damit bin ich noch lange keine Glucke.«
    Geschichtentauscher grinste. »Was glaubst du denn, Junge?«
    »Ich glaube, Ihr versucht, wie die Leute zu klingen, denen Ihr Eure Lügen erzählt, damit sie Euch vertrauen, glauben, Ihr wäret einer von ihnen. Aber Ihr seid keiner von ihnen, Ihr gehört zu niemandem. Ihr seid ein Spion, der allen die Hoffnungen und Träume und Wünsche und Erinnerungen und Vorstellungen stiehlt und ihnen dafür nur Lügen zurücklaßt.«
    Geschichtentauscher schien erheitert zu sein. »Warum bin ich nicht reich, wenn ich ein solcher Verbrecher bin?«
    »Kein Verbrecher«, sagte Calvin.
    »Es erleichtert mich, freigesprochen zu werden.«
    »Nur ein Heuchler.«
    Geschichtentauscher kniff die Augen zusammen.
    »Ein Heuchler«, wiederholte Calvin. »Ihr gebt vor, etwas zu sein, was Ihr nicht seid. Damit andere Leute Euch vertrauen, aber sie vertrauen nur einem Haufen Vorwände.«
    »Das ist aber eine interessante Idee, Calvin«, sagte Geschichtentauscher. »Wo ziehst du die Linie zwischen einem bescheidenen Mann, der seine Schwächen kennt, aber versucht, Tugenden nachzueifern, die er noch nicht ganz beherrscht, und einem stolzen Mann, der vorgibt, diese Tugenden zu haben, aber nicht die geringste Absicht hat, sie zu erwerben?«
    »Hört euch nur den Grenzansiedler an«, sagte Calvin verächtlich. »Ich wußte doch, Ihr könnt dieses volkstümliche Reden von einem Augenblick zum anderen aufgeben.«
    »Ja, das kann ich«, sagte Geschichtentauscher. »Genau, wie ich Französisch mit einem Franzosen und Spanisch mit einem Spanier und vier Dialekte der Roten sprechen kann, je nachdem, bei welchem Stamm ich bin. Aber du, Calvin, kannst du mit jedem voller Verachtung und Spott sprechen? Oder nur mit Leuten, die über dir stehen?«
    Calvin brauchte einen Augenblick, bis er dahinter kam, daß man ihm eine ganz schwere Abfuhr erteilt hatte. »Ich könnte Euch töten, ohne meine Hände zu benutzen«, sagte er.
    »Es ist schwerer, als du glaubst«, sagte Geschichtentauscher. »Einen Menschen zu töten, meine ich. Warum erkundigst du dich nicht bei deinem Bruder Alvin danach? Er hat es schon einmal getan, für eine gerechte Sache, während du mit dem Gedanken spielst, einen Menschen zu töten, weil er dich in die Nase kneift. Und dann wunderst du dich, warum ich meine, über dir zu stehen?«
    »Ihr wollt mich nur herunterputzen, weil ich Euch das genannt habe, was Ihr seid. Einen Heuchler. Wie alle anderen.«
    »Alle anderen?«
    Calvin nickte grimmig.
    »Jeder ist ein Heuchler, nur Calvin Miller nicht?«
    »Calvin der Schöpfer«, sagte Calvin. Noch während er es sagte, wußte er, daß es ein Fehler war; er hatte noch nie jemandem den Namen verraten, mit dem er selbst sich bedachte, und nun war er einfach damit herausgeplatzt, ein Rühmen, ein Prahlen, eine Forderung an diesen überaus unsympathischen Zuhörer. Wenn irgend jemand Calvins geheimen Traum den anderen verraten würde, dann wahrscheinlich dieser Mann.
    »Nun scheint es ja einmütig zu sein«, sagte Geschichtentauscher. »Wir alle geben vor, etwas zu sein, das wir nicht sind.«
    »Ich bin ein Schöpfer!« beharrte Calvin und sprach lauter, obwohl er genau wußte, daß er damit schwächer und noch verletzbarer wirkte. Er konnte sich einfach nicht davon abbringen, mit diesem schleimigen alten Mann zu sprechen. »Ich habe genauso viel Talent dafür, wie Alvin je hatte, falls es nur jemandem auffallen würde!«
    »Hast du in letzter Zeit ohne Werkzeuge Mühlsteine hergestellt?« fragte Geschichtentauscher.
    »Ich kann Steine in einer Palisade so eng zusammenfügen, als wären sie so aus dem Boden gewachsen!«
    »Irgendwelche Wunden geheilt?«
    »Ich habe vor ein paar Minuten einen Käfer getötet, der auf meinem Bein hinaufkroch, ohne ihn mit der Hand zu berühren.«
    »Interessant. Ich erkundige mich nach Heilungen, und du antwortest mit Töten. Das klingt in meinen Ohren nicht nach einem Schöpfer.«
    »Ihr habt selbst gesagt, daß Alvin einen Menschen getötet hat!«
    »Mit seinen Händen, nicht mit seinem Talent. Einen Mann, der gerade eine unschuldige Frau ermordet hatte, die starb, um ihren Sohn vor der Gefangenschaft zu bewahren. Der Käfer – hat er dir oder einem anderen Schaden zugefügt?«
    »Ja, da haben wir es wieder, Alvin ist stets rechtschaffen und wunderbar, während Calvin nichts richtig
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