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Der Reisende

Der Reisende

Titel: Der Reisende
Autoren: Orson Scott Card
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ermutigen, schnell zu wachsen, sich zu vermehren, sich in seinem ganzen Körper zu verbreiten. Harrison, du wirst gleich ein sehr, sehr kranker Mann sein.
    Die Rede dauerte eine Stunde, und Harrison ließ kein einziges Wort aus, obwohl er gegen Ende nach jedem Satz heftig in sein Taschentuch hustete. »Philadelphia ist kälter zu Hölle«, sagte Honore in seinem bescheidenen Englisch, als sie den Platz schließlich verließen. »Und euer Präsident ein verdammt langer Redner sein.« Dann fragte er auf Französisch: »Habe ich das richtig gesagt? Habe ich richtig geflucht?«
    »Wie ein Schauermann. Wie eine Flußratte«, sagte Calvin. »Ich war stolz auf dich.«
    »Ich war auch stolz auf dich«, sagte Honore. »Du hast so ernst dreingeschaut, daß ich gedacht habe, vielleicht schenkst du seiner Rede doch Beachtung. Dann dachte ich, nein, der Junge setzt seine Macht ein. Ich hatte gehofft, du würdest ihm den Kopf abtrennen, während er noch dort steht, und während der Kopf dann von der Tribüne rollt, hält er noch immer seine Rede. Dann hätte er darauf seinen Amtseid leisten können.«
    »Das wäre eine denkwürdige Amtseinführung gewesen«, sagte Calvin.
    »Aber es wäre nicht gut für dich gewesen, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen«, sagte Honore. »Scherz beiseite, mein Freund, es ist nicht gut, wenn jemand an Blut Geschmack findet.«
    »Mein Bruder Alvin hat einen Menschen getötet«, sagte Calvin. »Er hat einen Mann getötet, der getötet werden mußte, und niemand hat ihn deshalb ausgebuht.«
    »Gefährlich für ihn, aber vielleicht noch gefährlicher für dich«, sagte Honore. »Denn da du bereits voller Haß bist – das sage ich nicht als Kritik, das gehört zu den Dingen, die ich bei dir am attraktivsten finde – da du bereits voller Haß bist, wäre es sehr gefährlich, wenn du nun noch den Faßzapfen des Mordes aufdrehen würdest. Das ist ein Strom, den du dann vielleicht nicht mehr eindämmen kannst.«
    »Mach dir keine Sorgen«, sagte Calvin.
    Sie blieben noch ein paar Wochen in Philadelphia, während Harrisons schlimme Erkältung zu einer Lungenentzündung wurde. Er kämpfte und erwies sich als ziemlich zäher Bursche, doch schließlich starb er, kaum einen Monat nach seiner Amtseinführung, und er war die ganze Zeit über so krank gewesen, daß er nicht mal ein Kabinett hatte vorstellen können.
    Da er der erste Präsident der Vereinigten Staaten war, der im Amt starb, stellte man erst jetzt fest, daß die Verfassung sich ziemlich zweideutig darüber äußerte, ob der Vizepräsident nun lediglich die Aufgaben des Präsidenten wahrnahm oder tatsächlich das Amt übernahm. Andrew Jackson klärte diese Frage trefflich, indem er in den Kongreß ging und die Hand auf die Bibel legte, die man dort als Erinnerung an all die Tugenden aufbewahrte, die einen viel Mühe gekostet hatten, die Wähler davon zu überzeugen, daß man sie hatte. Mit lauter Stimme legte er vor ihnen allen den Amtseid ab und forderte sie auf, ihm das Recht dazu abzusprechen. Eine Weile gab es ein paar Witze über »Seine Akzidenz der Präsident«, aber Jackson war kein Mann, der mit sich tändeln ließ. Alle Kumpane Harrisons zogen sich blaue Flecke auf den Hintern zu, als man sie die Treppe des George-Washington-Gebäudes herunterwarf, in dem die Exekutive der Regierung ihre Amtsstuben hatte. Was auch immer Harrison für die Vereinigten Staaten von Amerika vorgesehen hatte, würde jetzt nicht eintreten, oder zumindest nicht so, wie er es geplant hatte. Jackson war von niemandem außer sich selbst abhängig.
    Calvin und Honore stimmten überein, daß sie der Nation einen großen Dienst erwiesen hatten. »Obwohl mein Anteil daran sehr klein war«, sagte Honore. »Ein bloßes Wort. Ein Vorschlag.« Calvin wußte jedoch, daß Honore insgeheim zweifellos den gesamten Ruhm für sich beanspruchte, oder zumindest den Ruhm für alles Gute, das aus der Sache resultierte. Dieses Wissen störte Calvin jedoch kaum. Eigentlich störte ihn im Augenblick gar nichts, denn er hatte seine Macht insgeheim bestätigt. Ich habe einen Präsidenten gestürzt, und niemand weiß, daß ich es getan habe. Keine schmutzige oder unbeholfene Tat, wie die Alvins, als er diesen Sklavensucher mit bloßen Händen getötet hat. Ich habe auf dem alten Kontinent mehr gelernt, als nur mein Talent feinzuschleifen. Ich habe Finesse erworben. Die wird Alvin niemals haben, der ungeschlachte Grenzer, der er ist und immer sein wird.
    Wie einfach es doch gewesen
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