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Der Reisende

Der Reisende

Titel: Der Reisende
Autoren: Orson Scott Card
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Tieren bevölkert wird.«
    »In den Vereinigten Staaten leben mehrere Millionen Menschen«, sagte Calvin.
    »Ja, das habe ich ja gerade gesagt«, erwiderte Honore.
    Die Herausforderung war zu groß, als daß Calvin ihr hätte widerstehen können. Konnte er den Präsidenten der Vereinigten Staaten stürzen? Wie sollte er es anstellen? Diesmal würden keine verächtlichen Worte ihn zur Selbstvernichtung provozieren, wie Calvins Worte dem Mann geholfen hatten, wieder aus schändlicher Vergessenheit aufzuleben.
    Aber andererseits hatte Calvin in den vielen Monaten seit ihrer Begegnung gelernt, viel subtilere Dinge zu tun, als lediglich zu reden. Es wäre eine Herausforderung. Es war fast eine Mutprobe.
    »Gehen wir nach Philadelphia«, sagte Calvin. »Zur Amtseinführung.«
    Honore war sofort damit einverstanden, in den Zug zu steigen und loszufahren. Ihn amüsierte, wie winzig und neu die kleinen Orte waren, die die Amerikaner als »Städte« bezeichneten, und Calvin mußte ständig auf ihn achtgeben, da er sein klägliches Englisch auch bei jenen groben Amerikanern übte, die imstande waren, den kleinen Franzosen einfach hochzuheben und in einen Fluß zu werfen. Honore, der nur mit einem reich verzierten Stock bewaffnet war, den er von einem Mitreisenden erworben hatte, war furchtlos durch die erbärmlichsten Einwandererviertel von New Amsterdam und nun von Philadelphia gegangen. »Diese Menschen sind keine Romanfiguren«, sagte Calvin mehr als einmal. »Wenn sie dir das Genick brechen, ist es tatsächlich gebrochen.«
    »Dann mußt du mich wieder hinkriegen, mein begabter talentischer Freund.« Er sagte in dem englischen Satz tatsächlich talentisch, obwohl – um die Wahrheit zu sagen – niemand außer Calvin das Wort verstanden hätte.
    »Es gibt in der englischen Sprache kein Wort wie talentisch«, sagte Calvin.
    »Von jetzt an doch«, sagte Honore, »weil ich es erfunden habe.«
    Während Calvin die Amtseinführung abwartete, zog er viele mögliche Pläne in Betracht. Mit bloßen Worten ließ die Aufgabe sich nicht erledigen. Daß Harrison gewählt worden war, basierte so offensichtlich auf Lügen, daß man sich kaum vorstellen konnte, irgendeine Enthüllung über Harrison würde noch jemanden schockieren oder enttäuschen. Wenn die Leute einen Präsidenten wie diesen wählten, der einen Wahlkampf wie den geführt hatte, den er geführt hatte, konnte man sich kaum vorstellen, welcher Skandal ihn stürzen könnte.
    Außerdem beschränkte Calvins Talent sich jetzt nicht mehr auf Worte. Er wollte in Harrisons Körper eindringen und dort irgendeinen Unfug anstellen. Er erinnerte sich an Napoleon und daran, wie er an der Gicht gelitten hatte, und spielte mit dem Gedanken, Harrison irgendeine schwächende Krankheit zu geben. Doch bedauernd mußte er sich eingestehen, daß es noch nicht in seiner Macht stand, etwas so Kompliziertes zu tun, eine so feine Abstimmung vorzunehmen, daß sie nur Schmerzen bereitete, aber nicht tötete. Zweifellos würde Calvin in der Nähe bleiben und darauf achten müssen, daß das, was er angerichtet hatte, nicht irgendwie geheilt wurde. Und außerdem würde Schmerz Harrison genauso wenig erniedrigen, wie die Gicht Napoleon davon abgehalten hatte, seine ehrgeizigen Pläne in die Tat umzusetzen.
    Schmerz, ohne zu töten. Warum hatte er sich eine so lächerliche Beschränkung auferlegt? Es bestand kein Grund, Harrison nicht zu töten. Hatte der Mann nicht den Tod von Calvins Bruder Measure befohlen? Hatte er nicht all diese Roten abgeschlachtet und damit bewirkt, daß Calvins Familie und Nachbarn unter einem Fluch standen, und zwar schon fast so lange, wie Calvin lebte? Nichts konnte einen Menschen mehr erniedrigen als das Sterben. Sechs Fuß unter der Erde, tiefer ging es wirklich nicht mehr.
    Am Tag der Amtseinführung, dem ersten Tag des neuen Jahres, war es bitter kalt, und als Harrison durch die Straßen Philadelphias zu der provisorisch errichteten Tribüne ging, auf der er vor mehreren tausend Zuschauern den Eid ablegen würde, begann es zu schneien. Stolz weigerte er sich, einen Hut aufzusetzen – was machte Kälte schon einem Mann aus dem Westen aus? –, und als er auf das Podium trat, um seine Rede zu halten, stellte Calvin erfreut fest, daß die Kehle des neuen Präsidenten bereits rauh und seine Brust schon etwas verstopft war. Es fiel Calvin wirklich ganz leicht, seine Begabung in die Brust des Weißen Mörders Harrison zu schicken und die kleinen Tiere in seinen Lungen zu
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