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Allein in der Wildnis

Allein in der Wildnis

Titel: Allein in der Wildnis
Autoren: Gary Paulsen
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    Aus dem Fenster des kleinen Flugzeugs starrte Brian Robeson hinab auf die endlose, grüne Wildnis des Nordens. Es war eine Cessna 206 – einer jener sagenhaften »Buschflieger«, die fast auf jeder Wiese landen können. Das Motorengeräusch war so laut, dass ein Gespräch unmöglich war.
    Brian hätte auch nicht gewusst, was er sagen sollte. Er war dreizehn Jahre alt und er war der einzige Passagier in diesem Flugzeug, bei diesem schweigsamen Piloten – wie war sein Name: Jim oder Jack? Ein Mann von beinahe fünfzig Jahren, der bis zum Start wortlos an seiner Maschine herumgebastelt hatte: Genau fünf Wörter hatte er gesprochen, seit Brian mit seiner Mutter im Auto auf diesem kleinen Flugfeld bei Hampton – im Staate New York – angekommen war, wo das Flugzeug auf ihn wartete.
    »Steig vorne in den Kopilotensitz!«
    Das hatte Brian getan. Sie waren auf die Landebahn gerollt, hatten abgehoben – und dann dröhnte der Motor los. Zuerst fand Brian es aufregend: Noch nie war er in einem einmotorigen Flugzeug geflogen. Gebannt saß er im Cockpit und beobachtete die blinkenden Lichter und Schalter im Instrumentenbrett, das leise vibrierende Steuer und die Pedale vor ihm, während der wortkarge Pilot neben ihm die Maschine steil nach oben zog. Fünf Minuten später hatten sie eine Höhe von zweitausend Metern gewonnen und schwebten ruhig in Richtung Nordwesten. Noch immer schwieg der Pilot und nur das Dröhnen des Motors erfüllte die Kanzel. Bis zum endlosen Horizont, wo Himmel und Erde verschmolzen, rollten die Hügel mit sattgrünen Wäldern, mit düsteren Mooren und silbern blinkenden Flüssen und Seen dazwischen.
    Brian saß da und schaute und hatte das einschläfernde Dröhnen des Motors in den Ohren. Vor seinem inneren Auge rollten die Ereignisse ab, die ihn hierhergeführt hatten – in den Kopilotensitz eines kleinen Flugzeugs auf dem einsamen Flug nach Norden.
    Und wieder kamen die Gedanken.
    Und wie immer kamen sie mit einem einzigen, hässlichen Wort: Scheidung.
    Ein hässliches, trauriges Wort, das ihn an Streit und Tränen erinnerte. Und an Rechtsanwälte. Oh, wie er diese Rechtsanwälte hasste, die mit verlogenem Lächeln auf ihren Bürostühlen hockten und sich in einen Nebel juristischer Fachwörter hüllten. Was sie ihm da erklären wollten, war die einfache, harte Tatsache, dass sein Leben, wie er es bislang gekannt hatte, zerbrochen war; dass alle Sicherheit und Geborgenheit für ihn zu Ende war. Seine Familie, sein Leben mit Papa und Mama, mit seinen Freunden.
    Scheidung. Ein hässliches, trauriges Wort. Scheidung – und Geheimnisse.
    Oder nein. Es waren nicht »Geheimnisse«, sondern ein drückendes Geheimnis, über das er mit niemandem spre chen konnte. Er kannte das Geheimnis seiner Mutter, das zu der Scheidung geführt hatte. Brian wusste es. Und es war ein Geheimnis.
    Die Scheidung …
    Das Geheimnis …
    Wieder spürte Brian das Brennen in seinen Augen. Und gleich würden die Tränen kommen. Ja, er hatte geweint, lange geweint. Aber das war vorbei. Jetzt weinte er nicht mehr. Jetzt brannten seine Augen nur noch, aber er weinte nicht mehr. Mit den Fingerspitzen fuhr er sich über die Augen und schielte nach dem Piloten – ob dieser etwas bemerkt hatte?
    Der Pilot saß lässig in seinem Sitz, die Hände am Steuer, die Füße auf den Pedalen des Seitenruders. Er wirkte fast wie ein Teil der Maschine, gar nicht wie ein lebendiger Mensch. Brian sah auf der Instrumententafel all diese Zifferblätter und Skalen, Schalter und Hebel, Knöpfe und Griffe und Lampen, die zuckend und blinkend irgendwelche Informationen gaben, von denen er nichts verstand. Auch den Piloten verstand er nicht. Das war kein Mensch, sondern ein Teil der Maschine.
    Aber der Pilot hatte Brians Blick aufgefangen und jetzt lächelte er. »Schon mal im Kopilotensitz mitgeflogen?«, fragte er. Den Kopfhörer seines Funkgeräts hatte er über die Schläfe geschoben. Er musste schreien, um den Motorenlärm zu übertönen.
    Brian schüttelte den Kopf. Ein Cockpit kannte er nur aus dem Kino und aus Fernsehfilmen. Alles war so verwirrend. Und so laut. »Nein, zum ersten Mal.«
    »Ist gar nicht so kompliziert, wie es aussieht. Ein gutes Flugzeug – wie dieses hier – fliegt beinahe von selbst.« Der Pilot zog die Schultern hoch. »Das erleichtert mir meinen Job.« Er beugte sich herüber. »Da, versuch’s einmal selbst. Leg die Hände ans Steuer und stell deine Füße auf die Pedale. Du wirst sehen, was ich meine.«
    Brian
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