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Der Reisende

Der Reisende

Titel: Der Reisende
Autoren: Orson Scott Card
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ihn von seinem eigenen Bruder abzuwenden und dazu zu bringen, sein gesamtes Werk ungeschehen zu machen? Ich habe einen Großteil der Geschichte, die ich euch erzählen werde, aus Callys eigenem Mund gehört, aber glaubt mir, er hat sich nicht einmal hingesetzt und mir oder irgendeinem anderen erklärt, warum er sich verändert hat. Oh, er hat vielen Leuten erzählt, warum er Alvin gehaßt hat, aber da er seinen Bruder immer genau dessen beschuldigt, was seine Zuhörer am meisten hassen, klingt das, was er dazu sagt, einfach nicht wahr. Den Puritanern sagt er, er habe Alvin hassen gelernt, weil er beobachtet habe, wie er einen Pakt mit dem Teufel schloß. Den Königsleuten sagt er, er habe Alvin gehaßt, weil sein Bruder so tief gesunken sei, daß er sogar einen Mord begangen habe, um einen Mann daran zu hindern, sein rechtmäßiges Eigentum zurückzuholen, einen jungen Sklaven namens Arthur Stuart. (Und der Gedanke, daß ein halbschwarzer Junge denselben Namen wie der König hat, läßt die Royalisten sowieso schon mit den Zähnen knirschen!) Calvin hat stets eine Geschichte parat, die ihn in den Augen Fremder rechtfertigt, aber nie ein Wort der Erklärung für jene von uns, die die Wahrheit über Alvin den Schöpfer kennen.
    Ich weiß nur dies: Als ich zum erstenmal Calvin erblickte, in Vigor Church während jenes Jahres, in dem Alvin versuchte, das Schöpfen zu lehren, in dem Jahr, bevor er ging … ich sage euch, da war Calvin bereits anders. In seinem Herzen war jedes Wort, das Alvin sagte, wie Gift. Wenn Alvin ihm keine Aufmerksamkeit schenkte, fühlte Calvin sich vernachlässigt und sagte es auch. Und wenn Alvin ihm dann Aufmerksamkeit schenkte, wurde Calvin sauer und verdrossen und behauptete, Alvin würde ihn nicht in Ruhe lassen. Man konnte es ihm nicht recht machen.
    Aber man erklärt nichts damit, wenn man sagt, daß man ihm nichts recht machen konnte. Das beschreibt nur, wie er sich benahm, ist aber keine Antwort auf die Frage, warum er sich so benahm. Ich habe da meine Vermutungen, aber sie sind nur Vermutungen und sonst nichts, nicht mal das, was man »begründete Vermutungen« nennt, denn es gibt keine Begründung dafür, daß die Vermutungen des einen besser sein sollen als die des anderen. Entweder man weiß es, oder man weiß es nicht, und ich weiß es nicht.
    Ich weiß nicht, warum Leute, die alles haben, was sie brauchen, um glücklich zu sein, nicht einfach ihr Leben leben und glücklich sind. Ich weiß nicht, warum einsame Menschen alle, die sich mit ihnen anfreunden wollen, immer wieder zurückstoßen. Ich weiß nicht, warum die Menschen schwache und harmlose Leute für ihre Probleme verantwortlich machen, während sie den echten Feind in Ruhe lassen und zusehen, wie er seinen Schaden anrichten und dann davonkommen kann. Und ich weiß ganz bestimmt nicht, warum ich mir die Mühe mache, das alles aufzuschreiben, obwohl ich weiß, daß ihr trotzdem nicht zufrieden sein werdet.
    Ich will euch mal was über Calvin sagen. Ich habe ihn eines Tages mal gesehen, wie er sich von Alvin unterrichten ließ, und einmal schenkte er ihm Aufmerksamkeit, richtige und ungeteilte Aufmerksamkeit, und achtete auf jedes Wort, das über die Lippen seines Bruders kam. Und ich dachte: Jetzt hat er es endlich gepackt. Ihm ist endlich klargeworden, wenn er wirklich der siebente Sohn eines siebenten Sohns, wenn er wirklich ein Schöpfer sein will, muß er von Alvin lernen, wie es gemacht wird.
    Und dann hörte der Unterricht auf, und ich blieb sitzen und beobachtete Calvin, während alle anderen gingen, um sich wieder ihrem Tagwerk zu widmen, bis nur noch ich und Calvin im Raum waren, und Calvin sprach tatsächlich mit mir – meistens ignorierte er mich einfach, als wäre ich gar nicht da –, und nach ein paar Sekunden war mir klar, was er tat. Er imitierte Alvin. Nicht Alvins normale Stimme, sondern seine Schulmeisterstimme. Ihr erinnert euch ja noch, wann er so wurde – ich weiß noch, er lernte, so blumig und schmuck zu quatschen, als er bei Miss Larner studierte, bevor sie ihre Tarnung fallen ließ und er erkannte, daß sie dieselbe Peggy Guester war, die sein Schafhäutchen aufbewahrte und ihn während seiner Kindheit und Jugend beschützt hatte. Die großen Fünf-Dollar-Worte, die sie in Dekane gelernt hatte, oder aus den Büchern, die sie las. Alvin wollte so kultiviert wie sie klingen, manchmal jedenfalls, und so lernte er die Worte und benutzte sie und sprach so schön, daß man glauben konnte, er habe
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