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Das letzte Buch

Das letzte Buch

Titel: Das letzte Buch
Autoren: Zoran Zivkovic
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|7| 1.
    Es sah nicht im Geringsten nach einem gewaltsamen Tod aus, sodass es keinen Grund zu einer Ermittlung gab. Doch die Inhaberin
     des »Papyrus« war in Panik geraten. Noch nie war jemand in ihrer Buchhandlung gestorben. Sie rief außer dem Rettungsdienst
     auch die Polizei an.
    Ich traf gleichzeitig mit dem Rettungswagen ein. Während der Arzt seine Arbeit tat, stand ich abseits und schaute mir die
     Buchhandlung an. Ich war noch nie hier gewesen. An Kleinigkeiten sah man, dass der Ort eine Seele hatte. Die Pflanzen in den
     Töpfen waren gut versorgt, der Zierrat über dem kleinen Kamin war nett angeordnet, nirgends war Staub, der unausweichlich
     bei Büchern zu finden ist.
    »Hier gibt es nichts zu tun für Sie, Kommissar Lukić«, sagte mir der Doktor, während er die Plastikhandschuhe abstreifte.
     »Natürlicher Tod. Wahrscheinlich Herzversagen. Nach der Autopsie werden wir mehr wissen. Was es auch gewesen sein mag, wahrscheinlich
     hat es ihn im Schlaf erwischt. Man kann ihn nur beneiden.« Er kicherte leise. »Der Mann wird nie erfahren, dass er gestorben
     ist.«
    »Wann ist der Tod eingetreten?«
    »So zwischen fünf und sechs. Der alte Mann hat mindestens zwei Stunden tot hier gesessen, und keiner hat es bemerkt. Wir leben
     in einer gleichgültigen Welt.«
    »Sieht so aus«, sagte ich und rückte zur Seite, um die Sanitäter |8| durchzulassen, die die Trage mit dem Toten hinausbrachten, der mit einem grünen Tuch bedeckt war.
    Der Arzt nickte. »Wir sehen uns, Kommissar, wenn es was Aufregenderes gibt.«
    Als wir allein waren, ging ich zu der Inhaberin, einer schlanken, graziösen Frau mit langem rotem Haar und Sommersprossen.
     Sie sah jung aus, aber sicherlich war sie so an die fünfunddreißig. Sie trug ein dunkelblaues Tweedkostüm und Ton in Ton dazu
     eine helle Bluse. An einem Band um den Hals hing ihre schmale Lesebrille. Sie stand vor dem Verkaufstisch mit der Kasse und
     wusste nicht wohin mit ihren Händen, wie das so bei Personen ist, die ihre Aufregung nicht verbergen können.
    Ich reichte ihr die Hand, um ihr wenigstens für einen Augenblick die Unsicherheit zu nehmen.
    »Kriminalkommissar Dejan Lukić. Guten Abend.«
    »Ich könnte mir einen besseren Abend vorstellen! Vera Gavrilović, Inhaberin des ›Papyrus‹.« Sie hielt inne, dann fügte sie
     fast verlegen hinzu: »Fräulein.«
    »Wollen Sie sich setzen?«, fragte ich.
    »Nein, danke. Es ist schon in Ordnung.«
    »Sie haben noch nie einen Toten gesehen?«
    Sie sah mich einige Augenblicke wortlos an, dann schüttelte sie kurz den Kopf.
    »Das ist immer erschütternd beim ersten Mal. Besonders, wenn einem der Verstorbene nicht unbekannt ist. Haben Sie ihn gekannt?«
    »Ich erinnere mich nicht, ihn je gesehen zu haben. Aber es kommen viele Leute hierher. Ich kann mir nicht alle merken.«
    »Wenn es Sie tröstet – es ist auch nicht viel einfacher, wenn man sich an einen solchen Anblick gewöhnt hat.«
    »Ich werde mich hoffentlich nicht daran gewöhnen müssen.«
    |9| »Ich denke, da besteht keine Gefahr. Eine Buchhandlung ist der letzte Ort, wo man Tote erwarten könnte. Das hier ist der erste
     Fall, der mir bekannt ist.«
    »Hoffen wir es!«
    »Würden Sie mir berichten, was passiert ist?«
    Fräulein Gavrilović seufzte tief, ehe sie begann.
    »So wie jeden Abend habe ich kurz vor acht angesagt, dass ich gleich schließen werde. Ein paar Kunden sind zur Kasse gekommen
     mit den Büchern, die sie sich ausgesucht hatten, die anderen sind zur Tür gegangen. Erst als der letzte Käufer draußen war,
     habe ich bemerkt, dass ich nicht allein bin.«
    Sie wandte sich einem Sessel zu, der mit abgeschabtem dunkelgrünem Samt bezogen war. Drei weitere dieser Art standen in den
     übrigen Ecken der Buchhandlung.
    »Der Mann hielt den Kopf über das Buch in seinem Schoß gebeugt. Es sah aus, als läse er, aber ich dachte, er schläft. Das
     ist nichts Ungewöhnliches. Im Winter kommen viele Leute hierher, die sich einfach nur aufwärmen wollen. Sie nehmen irgendein
     Buch, setzen sich in einen Sessel und bleiben hier, bis geschlossen wird. Die meisten lesen wirklich, aber es gibt auch welche,
     besonders ältere, die schlafen bald ein. Das stört mich nicht, wenn sie nicht gerade schnarchen.«
    Wie zur Rechtfertigung zog sie kurz die Schultern hoch.
    »Ich bin zu dem Sessel gegangen und habe dem Mann gesagt, dass wir schließen, aber er hat sich nicht gerührt. Ich habe es
     noch einmal wiederholt, lauter, ihm die Hand auf die Schulter
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